Jahresbericht Ärztekammer Nordrhein 2017
Ärztekammer Nordrhein Jahresbericht 2017 | 33 Allgemeine Fragen der Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik Vorsitzende des NZFH-Beirates und Stellvertreten- de Klinikdirektorin der Klinik für Kinder- und Ju- gendmedizin der Universität Lübeck, für einen er- folgversprechenden Weg. Eindrucksvoll konnte sie die neuroanatomischen Grundlagen der Notwen- digkeit der Hilfen in einer frühen Entwicklungszeit von Kindern darstellen. So war die Vernetzungsan- zahl der Neurone in den ersten tausend Tagen eines heranreifenden Kindes deutlich höher als in den folgenden Monaten. Mögliche Hilfebedarfe in Familien erkennen Dabei gehe es nach Ansicht von Thyen in den Kli- niken weniger darum, neue, zeitaufwändige Auf- gabengebiete einzuführen, als vielmehr darum, in- nerhalb der täglichen Arbeit eine andere Haltung zu etablieren. Gelegenheiten, die sich beispielsweise im Rahmen von Untersuchungen oder Arzt-Patienten- Gesprächen ergeben, sollten feinfühlig genutzt wer- den, um den möglichen Hilfebedarf in Familien zu erkennen, ein vertiefendes Gespräch anzuschließen und gegebenenfalls an Angebote der Frühen Hilfen weiterzuleiten. Grundlage jedweden gelingenden Engagements von Pflegekräften, Hebammen oder Ärztinnen und Ärzte seien dabei Achtsamkeit so- wie eine klientenzentrierte Gesprächshaltung mit Empathie, Wertschätzung und Akzeptanz für die jungen Familien. Professor Dr. Marcus Siebolds, Professor für den Lehrbereich Medizinmanagement und Prodekan des Fachbereichs Gesundheit an der Katholischen Hochschule in Köln, sieht hierzu auch Bedarf bei der Vernetzung der Frühen Hilfen mit dem ambu- lanten Bereich. Er ist überzeugt: Der psychosoziale Beratungsbedarf für Familien in den Kinderarzt- praxen werde weiterhin kontinuierlich steigen. Doch schon heute werde dieser Bedarf im aktuel- len Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) nicht angemessen berücksichtigt, da dort Kinder nur als Empfänger medizinischer Leistungen definiert seien. Kinder aus belasteten Familien bedürften aber häufiger sozialpädagogischer, familienunter- stützender oder psychologischer Leistungen des Kinder- und Jugendhilfebereichs, die wiederum im SGB VIII verortet seien. Eine direkte Überweisung in den jeweils anderen Bereich sei nur bedingt mög- lich. Das führe aktuell dazu, dass belastete Famili- en im SGB V oft mit medizinischen Leistungen in Ermangelung pädagogischer Angebote unter- oder fehlversorgt würden. Als Beispiel führte Siebolds den Anstieg im Leistungsbereich der Logopädie und Ergotherapie an. Um diese ungünstige Ent- wicklung aufzuhalten, habe das NZFH in Zusam- menarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg ein Projekt aufgelegt, um eine tragfähige Struktur zur nachhaltigen Vernetzung von kommunaler Jugendhilfe und Vertragsärztin- nen und -ärzten sowie Vertragspsychotherapeu- tinnen und -therapeuten im Rahmen der Frühen Hilfen zu erproben. Projektziel sei die Einrichtung hilfesystemübergreifender vertragsärztlicher Qua- litätszirkel, die der Vernetzung von Mitarbeitenden aus Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhil- fe dienen sollten. Vier Kernelemente für die Qua- litätszirkelarbeit seien dazu entwickelt worden. Darunter ein Schulungskonzept für die Ausbildung der Moderatorenteams (ein Vertragsarzt und ein Vertreter der Kinder- und Jugendhilfe) sowie drei Angebote zur Gestaltung von Qualitätszirkeln in Form sogenannter Dramaturgien. Hierbei handele es sich um die „Familienkonferenz“ als fallanalyti- sches Verfahren, die klinische Fallfindung belaste- ter Familien und das motivierende Elterngespräch zur Unterstützung der Überleitung von Familien aus der Kinderarzt- oder Gynäkologenpraxis in die Angebotsstrukturen der Frühen Hilfen. Interdisziplinäre Qualitätszirkel nutzen Siebolds Resümee: „Wir freuen uns, dass wir nach erfolgreicher Implementierung in Baden-Württem- berg das Projekt in sieben weiteren Bundesländern etablieren können, und dass wir, wie Herr Nienhuys erwähnte, auch in Nordrhein-Westfalen unmittel- bar vor einem Vertragsabschluss zur Einrichtung hilfesystemübergreifender Qualitätszirkel stehen.“ Dr. Hans-Helmut Brill, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Köln und der erste Arzt, der als Moderator in Nordrhein für die künftigen interdis- ziplinären Qualitätszirkel ausgebildet wurde, er- gänzte Siebolds Vortrag durch einen Praxisbericht. Ihm habe die Arbeit im Qualitätszirkel in mehrfa- cher Hinsicht genutzt. Zum einen gelinge es ihm durch den Austausch mit Ansprechpartnern aus der Kinder- und Jugendhilfe, belastete Familien schnel- ler zu identifizieren. Zum anderen seien ihm heute Netzwerke bekannt, zu denen er Familien zeitnah schicken könne. Dies stelle eine wesentliche Er- leichterung in seinem beruflichen Alltag dar.
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