Jahresbericht Ärztekammer Nordrhein 2017

34 | Jahresbericht 2017 Ärztekammer Nordrhein Allgemeine Fragen der Gesundheits-, Sozial- und Berufspolitik Unterwegs mit schwerem Gepäck In NRW leben derzeit rund 13.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Wohnheimen und rund 74.000 minderjährige Flüchtlinge bei ihren Fami- lien und Verwandten. Auch ihr Start ins Leben ist durch Kriegsgeschehen und Fluchterfahrungen stark beschwert.Ihnenallenistgemein,dasssichihrLeben aufgrund von Krieg, Hunger, Folter, Prostitution und Flucht in kürzester Zeit drastisch verändert hat. Die Kinder kommen, wie es Dr. phil. Dipl.-Psych. Marco Walg, Leiter der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Sana Klinikums Remscheid in Wuppertal, auf dem Kammerkolloquium be- schrieb, mittellos nach Deutschland, aber in ihrem Gepäck seien Angst, Schmerzen, Trauer, Einsam- keit und Zorn. Sie benötigten zur Anpassung an ihr neues Leben psychosoziale Unterstützung, einige von ihnen aber auch medizinische und psychothe- rapeutische Versorgung. Diese wichtigen Versor- gungsleistungen führten Ärztinnen und Ärzte der- zeit im Schatten öffentlicher Diskussionen durch, in denen Flüchtlinge teils als Simulanten beschrie- ben würden, so Walg. Ärztinnen und Ärzte sehen sich darüber hinaus auch immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden durch medizinische Gefälligkeitsgutachten berechtigte Abschiebungen verhindern. Unter den Eindrücken dieser Diskussion berichteten Privatdo- zent Dr. Gerhard Hapfelmeier, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Sana-Klinikum Remscheid, sowie Dr. phil. Dipl.-Psych. Michael Simons, leiten- der Psychologe an der Klinik für Psychiatrie, Psy- chosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Ju- gendalters am Universitätsklinikum in Aachen, von ihren täglichen Erfahrungen bei der psychothera- peutischen Behandlung minderjähriger Geflüchte- ter. Hapfelmeier erläuterte stellvertretend die Situa- tion, die sich ihnen derzeit in der Versorgung bietet. Natürlich gebe es Fälle, bei denen zu diskutieren sei, ob sich ein minderjähriger Geflüchteter Vorteile erschleiche und eine Erkrankung simuliere. Doch viel häufiger sehe man Kinder und Jugendliche, die aus Scham Probleme eher verschwiegen, die von psychologischen Problemen nichts wissen und keine Schwäche zeigen wollten. Den Vorwurf der Simulation entkräftete er mit Bildern von Kindern aus seiner Ambulanz mit eindeutigen Kriegs- und Folterspuren. Diesen Kindern und Jugendlichen eine gute Behandlung angedeihen zu lassen, um sie für das Leben in Deutschland aufzustellen, sei die therapeutische Herausforderung seiner Klinik. Gutachten rechtssicher formulieren Wichtig sei es, sich als Behandler von den öffent- lichen und mit Vorurteilen belasteten Diskussionen zu lösen und auf den Einzelfall zu schauen, um mit kühlem Kopf zu entscheiden, ob und in welchem Umfang eine Behandlung nötig sei. Die gleiche Hal- tung würde auch bei der Begutachtung im Rahmen von Abschiebungen helfen. Es sei nicht die Aufgabe der Kliniken und der dort tätigen Ärzte, Menschen generell vor Abschiebungen zu schützen. Vielmehr gehe es darum, differenzierte, gut begründete Gut- achten zu verfassen, die imEinzelfall zu denmedizi- nisch richtigen Empfehlungen für die ihnen anver- trauten Patienten führten. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen zur Reisefähigkeit im Asylpaket II stellten höhere Ansprüche an die Gutachter, die dif- ferenzierter als zuvor, individuell den Schweregrad der Erkrankung, die gegebenenfalls zu erwarten- de Verschlechterung der Erkrankung bei Abschie- bung, die Bedingungen der Fluchtgeschichte sowie die Berücksichtigung der Behandlungsmöglichkei- ten im Abschiebeland im Gutachten medizinisch korrekt und rechtsicher zu beschreiben hätten. Die- ser Aufgabe würden Ärztinnen und Ärzte in ihren Ambulanzen gewissenhaft nachkommen. In NRW leben rund 13.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

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