16 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 2 / 2024 „Kein Krankenhaus. Keine Hoffnung.“, heißt es am Ende des kurzen Films. Er stammt aus dem Jahr 2020 und wurde im Rahmen der Kampagne #NotATarget (Keine Zielscheibe) gedreht. Die Kampagne ist Teil der Health Care in Danger Initiative, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bereits im Sommer 2011 ins Leben gerufen hat, um sich mit der wachsenden Bedrohung medizinischer Hilfe insbesondere in Kriegs- und Krisengebieten auseinanderzusetzen. Gut 1.300 Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Gesundheitspersonal, Krankenwagen sowie Patientinnen und Patienten hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) allein im vergangenen Jahr gezählt. Mehr als 700 Menschen haben dabei ihr Leben verloren, fast 1.200 wurden verletzt. Dabei ist die Art der Übergriffe vielfältig. Ärzte und Pfleger werden attackiert, Patienten am Zugang zu medizinischen Einrichtungen gehindert, Krankenwagen an Checkpoints an der Weiterfahrt gehindert oder Krankenhäuser bombardiert und geplündert mit der Folge, dass ganze Regionen auch langfristig von der medizinischen Versorgung abgeschnitten sind. Um die Dimension des Problems zu erfassen, sammelt die UNOrganisation seit 2015 Daten über derartige Übergriffe und veröffentlicht sie tagesaktuell auf ihrem SSA-Dashboard (Surveillance System for Attacks on Health Care). 2023 waren 19 Staaten besonders von Gewalt gegen Krankenhäuser, Ambulanzfahrzeuge, Ärzte und Pflegekräfte betroffen. Ganz oben auf der Liste stehen Gaza und das Westjordanland (771 Angriffe), die Ukraine (209), Myanmar (66) und der Sudan (61). Systematische Untersuchungen fehlen Ob die Zahl der Übergriffe über die Jahre hinweg zugenommen habe, sei statistisch schwer zu belegen, weil es kaum systematische Untersuchungen gebe, sagt Tankred Stöbe im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Der Notfallmediziner war von 2007 bis 2015 Präsident der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ (Médicins sans Frontières, MSF), ist inzwischen Mitglied im Vorstand der französischen Sektion und noch immer regelmäßig für die Organisation in internationalen Krisenherden im Einsatz, zuletzt in der Ukraine. „Wenn ich auf die letzten drei Einsätze dort zurückblicke, gibt es kaum Krankenhäuser in Frontnähe, die nicht vom Kriegsgeschehen beeinträchtigt sind“, erklärt Stöbe. So sei im vergangenen Sommer ein von MSF unterstütztes Krankenhaus in Cherson unter schweren Beschuss geraten. Dabei starb ein einheimischer Chirurg im OP. „Schwere Sicherheitszwischenfälle“ wie dieser schienen im Laufe der Zeit zugenommen zu haben. „Zumindest ist das meine Wahrnehmung, wenn ich auf die vergangenen 20 Jahre zurückblicke, in denen ich an humanitären Hilfseinsätzen teilnehme“, sagt Stöbe. Was bei den Angriffen meist offen bleibe, sei die Frage, ob es sich um systematische Attacken handelt oder um sogenannte Kollateralschäden. „Das ändert aber nichts daran, dass von der Prämisse, dass medizinische Einrichtungen vom humanitären Völkerrecht geschützt sind, nicht mehr viel Spezial übriggeblieben ist – mit tödlichen Konsequenzen für die Patienten, aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen“, so der MSF-Vorstand. Kernstück des humanitären Völkerrechts sind die Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle. Unter anderem vor dem Hintergrund zweier Weltkriege hat sich die internationale Staatengemeinschaft darin verpflichtet, in Kriegen und bewaffneten Konflikten Zivilisten, Gesundheitspersonal, Kranke und Verwundete zu schützen sowie Verstöße gegen diese Schutzvorschriften zu ahnden. Angriffe gegen Zivilisten und medizinische Einrichtungen gelten als Kriegsverbrechen. Auch der Krieg kenne Regeln, schreibt das IKRK auf seiner Webseite. Die Gewalt brauche Grenzen, damit Kriege nicht in Barbarei ausarteten. Auf die Genfer Konventionen gehen auch die Prinzipien der humanitären Hilfe zurück, deren Aufgabe es ist, in Situationen von Krieg und Gewalt, Naturkatastrophen und Epidemien Leben zu retten und Leid zu lindern. Diese Prinzipien – Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität – liegen der humanitären Arbeit der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ebenso zugrunde wie der Arbeit von humanitären Hilfsorganisationen wie MSF (siehe Kasten). „Nur wenn wir uns an diese Prinzipien halten, können wir sicherstellen, dass alle Menschen, die medizinische Hilfe benötigen, diese auch erhalten – ohne Ansehen der Person“, erklärt Tankred Stöbe. „Und nur wenn wir keine Partei ergreifen, können wir auch die Sicherheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewährleisten.“ Denn die Sicherheit im Einsatz in Kriegen und Konflikten ist immer eine verhandelte. Man spreche mit allen Seiten – Kriegsparteien, Milizen, Warlords –, um Hilfsbedürftige zu erreichen und medizinische Einrichtungen und Personal zu schützen. „Wir haben keine Feinde, weil wir jedem, der krank oder verletzt ist, medizinische Hilfe anbieten“, so Stöbe. Das müsse aktiv und kontinuierlich kommuniziert werden. Neben dieser Art der „humanitären Diplomatie“ und der klaren Kennzeichnung von Helfern, Ambulanzen und medizinischen Einrichtungen gibt es aber auch zahlreiche praktische Sicherheitsmaßnahmen, um Mitarbeiter und Patienten zu schützen. „Aus drei Einsätzen in der Ukraine kann ich da ganz konkrete Beispiele nennen“, sagt der MSF-Vorstand. Dort habe die Organisation Einrichtungen evakuiert. 120 Patienten, die dement, multimorbide oder bettlägerig waren, konnten so vor den russischen Angriffen in Sicherheit gebracht werden. „Um die Sicherheit der Mitarbeiter zu gewährleisten, haben wir in der Ukraine zudem Schutzmaß- „Wir müssen verhindern, dass Gewalt gegen medizinische Einrichtungen und humanitäre Helfer ein Stück weit Normalität wird.“ Dr. Tankred Stöbe, „Ärzte ohne Grenzen“ Foto: MSF
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=