Rheinisches Ärzteblatt 3/2023

Thema 12 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 / 2023 Das aus dem Englischen stammende Wort „Gender“ ist mittlerweile auch aus dem deutschen Sprachraumnicht mehr wegzudenken. Gender-Pay-Gap, Gendersternchen oder Genderpolitik, das „soziale Geschlecht“ ist zum festen Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Diskurses geworden. Keine Überraschung also, dass auch die Medizin neben dembiologischen Geschlecht zunehmend das soziale Geschlecht in der Patientenversorgung berücksichtigt. Oder? „Wir wissen eigentlich schon sehr lange, dass Frauen und Männer teilweise unterschiedliche Symptome bei denselben Erkrankungen haben, oder dass manche Erkrankungen bei Frauen häufiger auftreten als bei Männern“, sagt Professor Dr. Petra Thürmann, Stellvertretende Ärztliche Direktorin des Helios Universitätsklinikums Wuppertal und Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Pharmakologie an der Universität Witten/Herdecke. Trotzdemwurde das Thema in der Medizin lange stiefmütterlichbehandelt. „DasWort Gendermedizinklingt sehr nach politischen Forderungen und nicht nach tatsächlicher Berücksichtigung von biologischen Fakten“, erklärt Thürmann. Wissenschaft sei zudem früher eine Männerdomäne gewesen und damit die Autoren medizinischer Lehrbücher überwiegend männlich. „Das hat den Blick für diese Thematik vermutlich nicht geschärft“, bemerkt die Pharmakologin. Mittlerweile gehe die geschlechtersensible Medizin über die Dichotomie von Frauen und Männern hinaus undnehme auchdiverse IdentitätenundGeschlechterrollen in den Blick, so Thürmann. Diesem Urteil schließt sich auch Professor Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für geschlech- tersensible Medizin an der Universität Bielefeld, an: „Die gendersensible Medizin war immer auch ein politisches Thema. Sie entsprang der Frauengesundheitsbewegung und hatte als solche Befürworter, traf aber auch auf massive Widerstände.“ Letztendlich habe man in den vergangenen Jahren Fakten geschaffen, sagt Oertelt-Prigione, und damit die Politik überzeugt, das Thema ernst zu nehmen. So sollen laut Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zukünftig geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention sowie in der Forschung besser berücksichtigt werden. Die Gendermedizin soll zudem Teil des Medizinstudiums werden und in die Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe integriert werden, so die Bundesregierung. Ihren Ursprung hat die gendersensible Medizin in der kardiovaskulären Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre in den Vereinigten Staaten. Ende der 1990er-Jahre schwappt sie dann nach Europa und ist seitdem vorrangig im Bereich der Kardiologie angesiedelt. Mittlerweile zögen andere Fachrich- tungen wie die Onkologie und Neurologie nach, berichtet Oertelt-Prigione. In jüngster Zeit sei das Thema gesellschaftlich und auch medial sehr prä- Foto: melita /stock.adobe.com Medizin: Eine Frage des Geschlechts? In der Medizin ist der Mann immer noch die Norm und das obwohl Beispiele wie der Herzinfarkt zeigen, dass sich Krankheitssymptome bei Männern und Frauen stark unterscheiden können. Nachdem die Coronapandemie geschlechtsspezifische Unterschiede im Krankheitsverlauf von COVID-19 auf tragische Art deutlich gemacht hat, wird das Thema nun medial immer präsenter. Auch die Bundesregierung hat sich die Gendermedizin auf die Fahne geschrieben. Ende vergangenen Jahres haben sich acht medizinische Fakultäten in Nordrhein-Westfalen zu einem Netzwerk für geschlechtersensible Medizin zusammengeschlossen mit dem Ziel, diese fest in Lehre und Forschung zu verankern. von Jocelyne Naujoks

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