Rheinisches Ärzteblatt 3/2023

Thema Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 /2023 13 Geschlechterrollen heute viel stärker überlappen als noch ein oder zwei Generationen vorher. Damit veränderten sich auch Genderidentitäten. „In der gendersensiblen Medizin haben wir es einerseits mit biologischen Unterschieden zu tun. Auf der anderen Seite stehen soziale Dimensionen, alsowieMenschen leben, kommunizieren, sich selbst verstehen und mit mir als Ärztin oder Arzt interagieren. Das kannwiederumEinfluss auf potenzielle biologische Unterschiede haben.“ Wie Medizin mit solchen Veränderungen umgeht und inwiefern die Versorgung damit verbessert werden kann, ist Oertelt-Prigione zufolge ebenfalls Teil der gendersensiblen Medizin. Selbstverständlich sei eine gendersensibleMedizin auch für Männer vonVorteil, sagt Thürmann. Das klassische Rollenverständnis spiele in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient eine große Rolle. Depressionen äußerten sich bei Männern zumBeispiel häufig anders als bei Frauen. Hinzu komme, dass Männer sent. Das führe dazu, dass auch in der Ärzteschaft das Interesse an gendersensiblen Inhalten steige. Gendersensible Medizin muss Teil der Curricula aller Fachbereiche werden Ende vergangenen Jahres gründeten Oertelt-Prigione und Thürmann gemeinsam mit sechs weiteren medizinischen Fakultäten in Nordrhein und Westfalen-­ Lippe das Netzwerk geschlechtersensibleMedizinNRW mit dem Ziel, geschlechtersensible Medizin in die Curricula dermedizinischen Fakultäten zu integrieren und die Forschung zumThema voranzutreiben. DieHerausforderung dabei sei, geschlechtersensible Inhalte sinnvoll und an der richtigen Stelle in die Curricula der einzelnen Fachrichtungen zu implementieren, sagt Thürmann. Im Netzwerk wolle man sich dabei gegenseitig unterstützen und austauschen sowie Expertise bündeln. „Unsere Idee ist, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den einzelnen Fachrichtungen gendersensible Themen in die bestehenden Lehrinhalte einzubauen, dafür Materialien zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen“, so Oertelt-Prigione. Aktuell gebe es in Deutschland zwei medizinische Fakultäten, die geschlechtersensible Medizin in die Pflichtlehre integriert haben, vieleweitere bereiteten sich darauf vor. Nach Oertelt-Prigiones Meinung braucht es dafür vor allem die Unterstützung der Fakultätsleitung. „Pflichtlehre passiert nicht von selbst. ImMedizinstudiumwird sehr viel Stoff gelehrt. Neue Inhalte einzubringen, bedeutet oft auch, das andere weichen müssen.“ Für Thürmann, die das Institut für Pharmakologie am Wuppertaler Helios Klinikum leitet, braucht es vor allem eine Sensibilisierung für teilweise auch nur feine Unterschiede und denWillen, diese zu berücksichtigen. Sie sieht gerade bei den Studierenden großes Interesse und eine große Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen. „Inder täglichenPraxiswerdenÄrztinnenund Ärzte mit allen Geschlechtern konfrontiert und haben mehr oder weniger unbewusst ein sehr gutes Gefühl für diese Unterschiede“, sagt Thürmann. Wichtig sei nun, auch wissenschaftliche Fakten beizusteuern. „Medizin ist nicht schwarz oder weiß“ „Bei vielen Erkrankungen werden Geschlechterunterschiede identifiziert. Wichtig ist zu schauen, wie groß diese Unterschiede sind und wie relevant sie für die klinische Behandlung sind“, bekräftigt Oertelt-­ Prigione. Die geschlechtersensibleMedizinbefinde sich dabei ständig auf einer Gratwanderung. Sie entkräfte Stereotype und mache sie sich gleichzeitig zunutze. Denn, betont Oertelt-Prigione, „Medizin ist nicht schwarz oder weiß“. Auch nicht alle Frauen und alle Männer seien gleich. Zudem veränderten sich Patientinnen und Patienten im Laufe der Zeit. So seien zum Beispiel frühere Generationen nicht mehr mit heutigen vergleichbar. Oertelt-Prigione beobachtet, wie sich „Die gesellschaftliche Diskussion über Geschlechteridentitäten, die über zwei Geschlechter hinausgeht, hat auch der geschlechtersensiblen Medizin nochmal Anschub gegeben.“ Professor Dr. Petra Thürmann, Mitbegründerin des Netzwerks geschlechtersensible Medizin und Ärztliche Direktorin des Helios Universitätsklinikums Wuppertal. Foto: Helios/Michael Mutzberg ihre Beschwerden auch anders kommunizierten, so Thürmann. „MöglicherweisewerdenDepressionen bei Männern seltener oder später erkannt, weil manche Äußerungen von Männern eben nicht als Depression oder Zeichen für eine Depression interpretiert werden. Gelegentlich dürfte anerzogene Tapferkeit den rechtzeitigen Gang zum Arzt oder zur Ärztin verhindern.“ Das Phänomen des männlichen Präventionsmuffels sei bekannt. Dennoch gehen laut ThürmannÄrztinnen und Ärzte davon aus, dass die kürzere Lebenserwartung vonMännern imVergleich zu Frauen nicht alleine biologisch begründet ist, sondern teilweise auf sozialen Rollenunterschieden beruht. Frauen haben „untypische“ Symptome „Letztendlich landen wir bei der personalisierten Medizin“, sagt Professor Dr. Burkhard Sievers. „Stellen wir uns beispielsweise eine zierliche, kleine, muskulöseFrauvor unddanebeneine großgewachsene, leicht übergewichtige Frau mit geringer Muskelmasse und hohem Fettanteil. Beide sind Frauen, bräuchten aber zum Beispiel unterschiedliche Medikamentendosierungen.“ Körpergröße und -bau, Gewicht, Muskelmasse oder Fettanteil, das alles spiele neben dem biologischen und sozio-ökonomischen Geschlecht in eine

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