Rheinisches Ärzteblatt 3/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 /2023 23 palliativenSedierung mittragen, da es dem Wunsch ihres Mannes entspreche. Die Pflegepersonen geben zu Protokoll, dass der Pflegebedarf ihres Patienten rasch zunehme. Er habe zwischendurch gute Zeiten, erzähle, lache, sei aber starken Stimmungsschwankungen unterworfen. Der zunehmende Kontrollverlust belaste ihn sehr und er äußere selbst den Wunsch zu sterben. Ein psychiatrisches Konsil hatte im Vorfeld der Ethikberatung die Einwilligungsfähigkeit des Patienten festgestellt und diesem aus Rücksicht auf sein Kind eine Distanz zur Suizidalität bescheinigt. Vor dem Aufenthalt im Hospiz sei die Situation zu Hause noch stark durch einen frei verantworteten Suizidwunsch belastet gewesen. „Der Druck ist raus“ Nach eingehender Diskussion der Gesamtsituationdes Patientenundder infausten neurologischen Prognose lassen sich aus der Perspektive aller Teilnehmenden keine realistisch erreichbaren Therapiezielemehr formulieren. Aufgrund der raschen Verschlechterung des Allgemeinzustandes in den vergangenen Tagen fehlt nach Einschätzung des Behandlungsteams eine medizinische Indikation für die Fortsetzung der bisherigen Therapie mit Cortison gegen das Hirnödem. Um das Leiden des Patienten nicht unnötig zu verlängern, schlägt das Team der mobilen Ethikberatung vor, alle lebensverlängernden Medikamente abzusetzen einschließlich der intravenösen Gabe von Nahrung oder Flüssigkeit. Der Patient solle aber weiter nach seinen Wünschen essen und trinken. Maßnahmen zur Symptomkontrolle sollten fortgeführt werden. Nachdem man den Angehörigen ausreichend Zeit für den Abschied eingeräumt habe, könne dann jederzeit mit einer leitliniengerechten tiefen Sedierung begonnen werden. Das Hospizmeldete später zurück, dass die Ethikberatung die Situation vor Ort maximal entspannt habe. „Der Druck ist raus“, hieß es in einer E-Mail. Die Familie habe noch einige Tage zusammen verbracht, dann sei der Patient verstorben, ohne die tiefe Sedierung in Anspruch zu nehmen. Die Idee, eine mobile, das heißt aufsuchende Ethikberatung aufzubauen, entstand 2018 aus den gemeinsamen Erfahrungen des Palliativen Netzwerks für die RegionAachen, dem fast 70 Einrichtungen der Gesundheitsversorgung der Städteregion angehören. Denn das Netzwerk erreichten zum Beispiel über das Beratungstelefon der Servicestelle Hospiz zunehmend Fragen zu medizin- und sozialethischen Problemstellungen und Konflikten. Dazu gehörten Themen wie Therapielimitierung, dieAnwendung vonPatientenPraxis Die stationäre klinische Ethikberatung ist in Deutschland an nahezu allen größeren Krankenhäusern und Kliniken fest verankert. Die aufsuchende Beratung ist dagegen bislang kaum etabliert. Zu den wenigen Pilotprojekten zählt eine Initiative im Raum Aachen. In Trägerschaft des „Palliativen Netzwerks für die Region Aachen“ wurde dort vor gut einem Jahr eine Koordinationsstelle etabliert, um in ethischen Grenzsituationen allen Gesundheitseinrichtungen eine mobile Ethikberatung anbieten zu können. von Mareike Hümmerich, Veronika Schönhofer-Nellessen, Dominik Groß Die Anfrage erreicht die Koordinationsstelle der Städteregion Aachen von der Pflegeleitung eines Hospizes. Es geht um den Fall eines Patienten, Anfang 50, der seit einem Jahr an einem Hirntumor leidet, der sich trotz mehrerer Operationen und Chemotherapien weiter ausbreitet. Die Folgen sind eine leichte Sprechstörung, Lähmungserscheinungen und Gangunsicherheit, epileptische Anfälle und zuletzt delirante Episoden. Das Hospiz bittet umeine ethische Fallberatung, weil der Patient eine palliative Sedierungstherapie wünscht. An dem folgenden Gespräch nehmen neben dem Patienten und dessen Ehefrau die Bezugspflegerinnen und -pfleger, die betreuende Ärztin, die ärztliche Leitung, die Leitung des Hospizes sowie Protokollführer und Moderator dermobilenEthikberatung teil. Ziel der Beratung ist es, in einem strukturiertenGespräch verschiedene Behandlungsoptionen in ihren Konsequenzen zu erörtern und den Betroffenen bei der Festlegung einer Behandlungsoption zu helfen. Der Patient selbst ist schläfrig, nur eingeschränkt ansprechbar und kann nicht am gesamten Gespräch teilnehmen. Die Ehefrau erklärt, dass ihr Mann seine Situation nicht mehr ertragen könne. Sie selbst und das minderjährige Kind des Paars könnten den Weg einer Mobile Ethikberatung: Hilfe in Grenzsituationen Das „Palliative Netzwerk für die Region Aachen“ bietet in Kooperation mit dem Bildungswerk Aachen seit 2018 eine Qualifizierung zur Gesundheitlichen Versorgungsplanung (GVP) nach § 132 SGB V und zur Ethikberatung an. Fachlich und personell begleitet wird die Initiative durch das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik der RWTH Aachen und die Palliativakademie der RWTH Aachen. Diese Fortbildungen sind die Voraussetzung dafür, um niederschwellige Beratungen zu den normativen Entscheidungen am Lebensende anbieten zu können. Das Bildungswerk Aachen bietet in diesem Jahr zwei insgesamt elftägige Kurse zur GVP-Beraterin beziehungsweise zum GVP-Berater an (Start: 27. März und 4. September). Am 12. September startet ein insgesamt siebentägiger Kurs zur Ethikberaterin oder zum Ethikberater. Information: www.bildungswerkaachen.de Am 21. Juni 2023 ist zudem ein Informationstag zu dem Projekt geplant. Informiert wird neben der mobilen Ethikberatung unter anderem zu den Themen „Patientenverfügung“ und „Vorsorgevollmacht“. Qualifizierung in Ethikberatung/GVP

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