Rheinisches Ärzteblatt 3/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 /2023 25 Forum Bei Kindesmissbrauch und -misshandlung sind Ärztinnen und Ärzte häufig die ersten, die im Rahmen einer Untersuchung Symptome bemerken. Um weitere Schritte zum Schutz der Kinder einzuleiten, ist ein enger Austausch mit den Jugendämtern, der Polizei und mit ärztlichen Kolleginnen und Kollegen notwendig. von Marc Strohm Hämatome ziehen sich über den Körper des sechsjährigen Jungen. Die Eltern hatten sie beim Zubettgehen entdeckt und verdächtigten eine Erzieherin im Kindergarten, den lebhaften Jungen misshandelt zu haben. Bevor sie bei der Polizei Anzeige erstatten wollten, stellten sie ihren Sohn in der Kindernotfallambulanz der Helios St. Johannes Klinik in Duisburg-Hamborn vor, umdieVerletzungen ärztlich abzuklären zu lassen. Für Fälle wie diesen führen die Ärzte der Klinik im Kittel eine Taschenkarte mit, die gängige Verletzungsmuster bei Kindesmisshandlung zeigt. Augenscheinlich stimmten die Verletzungen des Jungen mit denen auf der Taschenkarte überein. Bevor sich die Ärztinnen und Ärzte jedoch darauf festlegten, dass eine Misshandlung vorlag, entschieden sie sich zu weiteren Untersuchungen. So zeigte schließlich ein Blutbild, dass der kleine Patient zu wenige Thrombozyten besaß, sodass die Ärzte eine Misshandlung sicher ausschließen konnten und stattdessen die Diagnose einer Immunthrombozytopenie stellten. Die Einblutungen seien dabei typisch für die Erkrankung, erklärte Kinderarzt Leon Philipp, der diesen Fall beim5. Fachtag Kinderschutz inDuisburg vorstellte. „Alleinstellungsmerkmal desmedizinischenKinderschutzes ist, dass wir als Ärztinnen und Ärzte viele organische Ursachen kennen, die einer Misshandlung ähneln. Diese Ursachen müssen ausgeschlossen werden, bevor wir ernste Gespräche führen und weitere Maßnahmen einleiten“, betonte Philipp. Während dieser Fall mit der Diagnose einer Erkrankung eine überraschende Wendung nahm, bestätigt sich der Misshandlungsverdacht jedoch in vielen Fällen. So eröffnete allein inDuisburg die Polizei imvergangenen Jahr 142 Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs und 355 Verfahren wegen Kinderpornografie, erklärte Alexander Dierselhuis, Duisburger Polizeipräsident. Doch auchMisshandlungen ohne sexuellen Bezug seien häufig und die Gründe dafür vielseitig, erklärte der Psychiater Dr. Michael Hipp, der in seinemVortrag auf die Rolle der Täter fokussierte. Viele Eltern von auffälli- gen Kindern litten selbst unter psychischen Erkrankungen, so Hipp. Bei mangelnder Impulskontrolle der Eltern führten vielfach bestimmte Trigger zu Gewalt. Eingeschränkte Selbstreflexion und Empathie verhinderten, dass die Eltern ein Problembewusstsein entwickelten und Therapie- und Hilfsmöglichkeiten in Anspruch nähmen. Häufiger Grund für die Vernachlässigung vonKindern sei ein Vermeidungsverhalten emotionaler Nähe. So könne eine enge Beziehung die Eltern an ihre eigene, schmerzvolle Bindungsgeschichte erinnern, weshalb sie den Kontakt beschränkten, was unter anderem Probleme in der Sprachentwicklung der Kinder zur Folge habe. Viele Männer mit einer dissozialen Persönlichkeit neigten zuGewalt gegen ihre Partnerin und ihre Kinder, sobald sie das Gefühl von Kontrollverlust erlebten. Da sie ihre Gewaltausbrüche in der Regel nicht bereuten, seien Interventionenwie eine Anti-Aggressionstherapie kaumwirksam. Bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sei eine Kindeswohlgefährdung besonders schwierig nachzuweisen, da sie es Hipp zufolge häufig gut verstehen, Helfer zu täuschen. Ärzte würden dabei zunächst in einer Idealisierungsphasemit Komplimenten überhäuft. Äußerten sie dann aber einenVerdacht, folge eine Phase der Entwertung. Er forderte Kolleginnen und Kollegen auf, insbesondere bei Eltern mit akuten Psychosen wachsam zu sein. Hier sei das Kindeswohl häufig gefährdet. Das RISKID Informationssystem Sobald sich der Verdacht einer Kindesmisshandlung erhärte, wechselten die Eltern häufig den Arzt, um ihre Taten zu verschleiern, warnte der Duisburger Pädiater Dr. Ralf Kownatzki. An dieser Stelle setzt das Informationssystem RISKID an. Es bringt Ärzte zusammen, umsich gemeinsamüber Befunde und Verdachtsdiagnosen von Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellenMissbrauch auszutauschen. Das Zusammenführen der medizinischen Befunde hilft, eine sachgerechte Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen. So kann betroffenen Kindern frühzeitiger geholfen werden. Aber auch Eltern werden vor unnötigen Meldungen an die Jugendhilfe geschützt. Dr. Rainer Holzborn, Vorsitzender der Kreisstelle Duisburg, appellierte an Pädiater, aber auch an Ärztinnen und Ärzte anderer Facharztgruppen, die Kinder behandeln, sich an RISKID zu beteiligen. Neben der Kooperation der Ärzte untereinander müsse aber auch der Austausch zwischen den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe sowie Verantwortlichen aus den Schulen und der Justiz ausgebaut werden, sagte Dr. Peter Seiffert. „Zusammen können diese Professionen ein schützendes Netz bilden, das die Kinder lückenlos umgibt“, soder Chefarzt der Kinder- und Jugendklinik der Helios St. Johannes Klinik Duisburg und Vorstand von RISKID. Kinderschutz – Handeln, bevor es zu spät ist Häufig wechseln Eltern den Arzt, um Missbrauch zu verschleieren. Dem will Dr. Ralf Kownatzki mit seiner Plattform RISKID entgegentreten. Foto: riskid e.V. Auf der Seite https://www.riskid.de/ können sich Ärztinnen und Ärzte über Befunde und Diagnosen ihrer kleinen Patienten austauschen, wenn unklar ist, ob ein Missbrauchsfall oder eine Misshandlung vorliegen. Das Informationsportal des Landes NRW www.kinderschutz.nrw informiert über Rechte, Aufgaben und Pflichten bei einem Missbrauchsverdacht und listet Ansprechpartner. Links zum Kinderschutz

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