Rheinisches Ärzteblatt 5/2024

22 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 5 / 2024 geht“, meint Rodolphe. Für die Menschen werde der Zugang zu Schutz und medizinischer Hilfe damit immer schwieriger. Godson Jean-Louis will trotz der prekären Lage in Haiti bleiben. Die Brüder telefonieren viel. Natürlich sei Godson gefährdet, er kenne sich aber aus und wisse, wie er sich in gefährlichen Situationen verhalten müsse, sagt Rodolphe. „Er ist ein hervorragender Chirurg und sieht jeden Tag, dass die Menschen Hilfe brauchen. Deshalb sagt er, er könne nicht weggehen.“ Rodolphe bewundert seinen Bruder dafür. Er selbst sieht seine Zukunft in Deutschland, will aber, sobald es die Sicherheitslage erlaubt, regelmäßig direkt vor Ort in Haiti medizinische Hilfe leisten. „Wir Haitianer sind von unserer Mentalität her sehr resilient. Wir haben immer noch die Hoffnung, dass es irgendwann irgendwie wieder besser wird“, sagt Rodolphe Jean-Louis. Eine unglaubliche Lebensenergie und Überlebensresilienz bescheinigt auch Tankred Stöbe den Menschen in dem Karibikstaat. Schwer erträglich findet er aber, wie die Welt wegschaut und die Gewalt und das Sterben in Haiti hinnimmt. „Unser Appell geht an die internationale und die deutsche Politik: Vergesst Haiti nicht!“, betont Stöbe. Er ist überzeugt, dass dort nur durch internationales Eingreifen Verbesserungen erzielt werden können. „Der Glaube, sich raushalten zu können, ist eine Ignoranz, deren Folgen die Menschen in Haiti jeden Tag erleiden müssen.“ Krankenhaus in Deschapelles, im Norden Haitis, an. Dort waren im Rahmen der humanitären Hilfe viele internationale Kollegen tätig. Einer dieser Ärzte riet Rodolphe, ins Ausland zu gehen. Er sei ein talentierter Chirurg, der seine Kompetenzen in der haitianischen Heimat nicht angemessen erweitern könne. Das habe bei der Entscheidung, seine Heimat zu verlassen, den Ausschlag gegeben, erklärt Rodolphe gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Ihm sei es um die eigene fachliche Weiterentwicklung gegangen. Die damalige Lage in Haiti habe dabei keine Rolle gespielt. Denn diese sei erst in den letzten drei, vier Jahren eskaliert. „Natürlich gab es immer Probleme, das Land ist arm, aber man konnte damals dort sein Leben leben“, sagt Rodolphe. Zuletzt war er 2018 in Haiti. Mittlerweile rate ihm sein Bruder Godson, der nach wie vor dort lebt und arbeitet, von Besuchen oder einer Rückkehr dringend ab – zu gefährlich, wenn man schon so lange von zu Hause weg ist und die Situationen, in die man gerät, nicht mehr einschätzen kann. „Godson arbeitet als Oberarzt in einer Universitätsklinik in Mirebalais, im Norden des Landes“, sagt Rodolphe Jean-Louis. „Die Lage dort verschlechtert sich allerdings zusehends.“ Im vergangenen September wurde das Krankenhaus von bewaffneten Gangstern angegriffen, die wild um sich schossen. Verletzt oder getötet wurde glücklicherweise niemand. „Dramatisch ist, dass der Respekt vor medizinischen Einrichtungen und medizinischem Personal mehr und mehr verloren die gebildeten, hoch qualifizierten Haitianer in Scharen das Land verlassen“, erklärt Stöbe. „Es gibt kaum einen Arzt, mit dem ich in Kontakt war, der nicht aktiv darüber nachdenkt, in die USA oder nach Kanada auszuwandern, oder es schon in die Wege geleitet hat. Dasselbe gilt für Juristen, Lehrer oder Übersetzer.“ Das sei zwar individuell nachvollziehbar, aber schlimm für das Land und auch für Hilfsorganisationen wie MSF, die dringend auf gut qualifiziertes Personal angewiesen sind. In den wenigen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, die noch funktionieren, verdienen die Ärzte Stöbe zufolge 200 Dollar im Monat. Organisationen wie MSF zahlten ein Vielfaches davon, konkurrierten aber mit den wenigen Privatkliniken im Land um qualifiziertes Personal. Im Ausland winkten dann noch einmal besser dotierte Stellen. Die Folge ist nicht nur ein großer Fachkräftemangel. „Es ist zuweilen auch schwierig, mit den gut qualifizierten einheimischen Mitarbeitern in einen konstruktiven Arbeitsprozess zu kommen und Qualitätsstandards einzufordern, weil sie jederzeit damit drohen abzuwandern“, gibt Stöbe zu bedenken. Das führe auch zu Frustrationen beim internationalen Personal. Zudem werde es immer schwieriger, medizinische Güter und Medikamente ins Land zu holen. Häufig blieben diese im Zoll hängen. „Und selbst wenn wir an höchster Stelle intervenieren, passiert oft nichts“, sagt Stöbe. Haiti gilt nicht umsonst als „Gescheiterter Staat“. Viele Ärzte verlassen das Land Dr. Rodolphe Jean-Louis ist einer derjenigen, die das Land verlassen haben. Seit 2017 absolviert der heute 37-Jährige am Klinikum Kulmbach in Oberfranken eine Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Jean-Louis stammt aus Carrefour, nahe der Hauptstadt Port-auPrince, und hat mithilfe eines staatlichen Stipendiums in Haiti Medizin studiert. Den Bezug zu Deutschland erlangte er nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010, bei dem fast 300.000 Menschen ihr Leben verloren und viele internationale Helfer in den Karibikstaat strömten, darunter Professor Dr. Thomas Bohrer, der inzwischen am Klinikum Kulmbach die Thoraxchirurgie leitet. Bohrer arbeitete im Rahmen der Erdbebenhilfe eng mit Jean-Louisʼ Bruder Godson, einem Allgemeinchirurgen, zusammen. Zunächst trat Rodolphe nach Abschluss seiner Weiterbildung, ebenfalls in Allgemeinchirurgie, eine Stelle am Albert-SchweitzerForum Potenzial als Notfallambulanz: Ein Team von Ärzte ohne Grenzen besichtigt einen möglichen Standort am Rand von Cité Soleil, dem größten Slum des Landes. Foto: Tankred Stöbe

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