Rheinisches Ärzteblatt 6/2023

26 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 / 2023 Praxis lungen und Überzeugungen der beteiligten Akteure ebenso wie das kulturelle und soziale Umfeld einbeziehen. Im ambulanten Ethik-Komitee wirken zwölf Personen aus dem Netzwerk mit, die unterschiedliche Akteure vertreten: Ärzteschaft, Patientenrecht, Pflege, Sozialarbeit, Moderatorinnen und Moderatoren ethischer Fallbesprechungen, Mitarbeitende aus der ambulanten und stationären Hospiz- und Palliativversorgung und aus den stationären Pflegeeinrichtungen. Nach der Satzung müssen Mitglieder aus dem ärztlichen, pflegerischen, psychosozialen und seelsorgerischen Bereich vertreten sein. Die Mitglieder werden satzungsgemäß für jeweils drei Jahre berufen. Die Mitarbeit im ambulanten Ethik-­ Komitee erfolgt ehrenamtlich. Seit 2023 wird das Netzwerk Bonn/Rhein-Sieg durch die Verbände der Krankenkassen, durch die Stadt Bonn und den Rhein-Sieg-Kreis gefördert. Seitdem kann die Teilzeitstelle einer Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des ambulanten Ethikkomitees finanziert werden. Möglichst im Konsens mit allen Beteiligten Jede Person, die an der Gesundheitsversorgung beteiligt ist und einen ethischen Konflikt identifiziert hat, kann ein ethisches Konsil anregen. Dies kann die betroffene Person selbst sein, ihre An- oder Zugehörigen, Vorsorgebevollmächtigte oder gesetzliche Betreuer, die beteiligten Gesundheitsberufe, Mitarbeitende der Hospiz- und Palliativdienste, der Seelsorge oder Mitglieder des Netzwerks. Bestenfalls nehmen auch alle beteiligten Personen an der Beratung teil. Anfragen können sich auf alle Arten von ethischen Konflikten beziehen, wie zum Beispiel Umsetzung des Patientenwillens in einer Pflegeeinrichtung, Sterbewunsch oder Therapiezieländerung. Nach einer Anfrage (telefonisch, persönlich, per E-Mail oder Kontaktformular) erfolgen Vorgespräche mit den Beteiligten, um die ethische Fragestellung herauszuarbeiten. Die Ethikberatung findet – je nach Situation und Dringlichkeit – zeitnah statt (möglichst innerhalb von zwei Werktagen) und vornehmlich an dem Ort, an dem die betreffende Person wohnt. An dem Ethikkonsil sollten zwei bis vier Mitglieder des Ethik-Komitees teilnehmen, davon mindestens ein ausgebildeter neutraler Moderator Im Verlauf des FVET sollten mögliche Komplikationen, zum Beispiel Symptome wie Mundtrockenheit, Verwirrtheit oder Unruhe, thematisiert werden. Neben der Symptomkontrolle durch Pflegepersonal und Hausärztin kann gegebenenfalls eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) zur Symptomkontrolle hinzugezogen werden. Empfehlung und Ausgang Alle Beteiligten konnten den Wunsch von Frau G., nicht mehr weiterleben zu wollen, nachvollziehen und sagten ihre Unterstützung zu. Frau G. wurde vorgeschlagen, erneut FVET zu beginnen, diesmal jedoch mit der Unterstützung des Pflegepersonals. Es wurde mit ihr vereinbart, dass sie zwar jederzeit Essen und Trinken anfordern könne, aber sonst weder Nahrung noch Flüssigkeit angeboten bekommen möchte. Der gesetzliche Betreuer wollte Frau G. in ihrem Entschluss begleiten. Die Pflegedienstleitung der Pflegeeinrichtung versicherte, dass sie die Entscheidung mit allen Mitarbeitenden im Pflegeteam besprechen wolle. Die Hausärztin sagte ihre ärztliche Begleitung und, falls erforderlich, Behandlung zur Symptomkontrolle zu. Nach der Ethikberatung wirkte Frau G. erleichtert und gelöst. Sie fühlte sich vor allem durch die Aussage, dass die Entscheidung zu FVET alleine bei ihr liege, in ihrer Autonomie gestärkt. Ab dem Tag der Ethikberatung hat Frau G. nichts mehr gegessen und nahezu nichts mehr getrunken. Zwei Wochen später verstarb sie ruhig in der Einrichtung. Organisation und Ablauf der Ethikberatung Das „Ambulante Ethik-Komitee des Netzwerks Hospiz- und Paliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg“ will den besonderen ethischen Herausforderungen im häuslichen Bereich, insbesondere solchen in der letzten Lebensphase, gerecht werden. An allen Orten, an denen Menschen leben, d.h. zu Hause, in Altenpflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, soll eine Ethikberatung bedürfnis- und zielgerecht zur Verfügung stehen. Dabei sollen unterschiedliche Perspektiven in der multiprofessionellen und interdisziplinären Beratung berücksichtigt werden. Die Beratung soll unterschiedliche Wertvorstelstanzen anbieten. Ebenso bieten Schweizer Sterbehilfeorganisationen auch für deutsche Mitglieder Suizidassistenz an. Der Verzicht auf oder der Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungsmaßnahmen war im Fall von Frau G. keine Option, da sie keine potenziell lebensverlängernden Behandlungen erhielt. Sowohl Hausärztin wie Arzt des ambulanten Ethik-Komitees stellten klar, dass sie aus ihrer persönlichen Haltung heraus keine Suizidassistenz durchführen würden. Verzicht auf Essen und Trinken Die Hausärztin hatte mit Frau G. bereits früher über einen freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) als Alternative zur Lebensbeendigung gesprochen. Frau G. hatte dies dann auch über mehrere Tage versucht, dann aber auf Drängen des Pflegepersonals beendet und wieder mit Essen und Trinken begonnen. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat FVET als eigene Handlungskategorie zwischen Suizid und Behandlungsverzicht eingestuft, allerdings wird von anderen Autoren durchaus FVET als eine Form des Suizids bewertet. Die Entscheidung über FVET liegt allein bei der betroffenen Person, die den Entschluss jederzeit selbstbestimmt umsetzen kann, ohne dafür Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Bei einem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit kann es bis zum Tod Tage oder wenige Wochen dauern, bei einem Verzicht auf Nahrung (ohne Verzicht auf Flüssig- keit) kann der Prozess mehrere Wochen dauern. Zumindest in der ersten Zeit kann die betroffene Person die Entscheidung auch wieder rückgängig machen, indem Nahrung und Flüssigkeit wieder aufgenommen werden. Allerdings sollte die Entscheidung zu FVET von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Behandlern wie jede andere Form eines Sterbewunsches abgeklärt werden. Die Entscheidung sollte vom Behandlungsteam wahrgenommen und respektiert werden. Vom Behandlungsteam sollte mit ausreichender Zeit und Tiefe nachgefragt werden, was für Patientinnen und Patienten so unerträglich ist, dass der Sterbewunsch ausgelöst wurde. Es sollte überprüft werden, ob für die betroffene Person Alternativen zu dieser Entscheidung denkbar sind oder unter welchen Umständen andere Handlungsoptionen vorstellbar wären.

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