Rheinisches Ärzteblatt 6/2023

28 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 / 2023 Praxis – Arzt und Recht – Folge 135 Zwischen der ärztlichen Aufklärung vor einer medizinischen Behandlung und der von Patientinnen und Patienten erteilten Einwilligung gibt es keine zwingend einzuhaltende Bedenkzeit, entschied der Bundesgerichtshof (BGH). Die Patienten seien diejenigen, die im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts über den konkreten Einwilligungszeitpunkt entschieden. von Katharina Eibl und Dirk Schulenburg Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 20.Dezember 2022 (AZ: VI ZR 375/21) die Vorgaben zu den zeitlichen Maßstäben konkretisiert, die von der ärztlichen Aufklärung bis zur Entscheidung über die Erteilung oder das Versagen der Einwilligung durch die Patienten gelten. Der Gesetzgeber hat die Einwilligung der Patienten in § 633 d BGB geregelt. Danach sind die Behandelnden verpflichtet, vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, die Einwilligung der Patientin oder des Patienten einzuholen. Gemäß § 630 d Abs. 2 BGB setzt die Wirksamkeit der Einwilligung voraus, dass die Patienten vor der Einwilligung nach Maßgabe von § 630 e BGB aufgeklärt worden sind. Rechtzeitigkeit der Aufklärung § 630 e Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BGB regelt die Anforderungen an die Aufklärung der Patienten in zeitlicher Hinsicht. Hiernach muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass diese ihre Entscheidung über die Einwilligung wohl überlegt treffen können. Das zwingend mündlich durchzuführende Aufklärungsgespräch kann nur bei ausdrücklichem Verzicht der Patienten oder Unaufschiebbarkeit der Maßnahme entfallen. Je weniger dringlich die Behandlung, desto umfassender und ausführlicher ist aufzuklären. Je dringender und notwendiger ein Eingriff ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Aufklärung. Keine „Sperrfrist“ für Einwilligung Das Gesetz sieht keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Sie enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen muss. Dies hat der BGH in seinem aktuellen Urteil bestätigt. Gegenstand des Verfahrens war ein Haftungsprozess. Der klagende Patient litt an chronisch rezidivierenden Ohrenentzündungen und Paukenergüssen und hatte sich für eine mögliche Ohrenoperation (Mastoidektomie) in die Klinik des Beklagten begeben. Der behandelnde Arzt riet dem Patienten, in einem ersten Schritt zur Optimierung der Nasenluftpassage die Nasenscheidewand begradigen und die Nebenhöhlen sanieren zu lassen. Am 1. November 2013 wurde der Patient über die Risiken des beabsichtigten Eingriffs aufgeklärt. Im Anschluss an das Aufklärungsgespräch unterzeichnete er noch am gleichen Tag das Formular zur Einwilligung in den ärztlichen Eingriff. Drei Tage später wurde er stationär aufgenommen und der Eingriff durchgeführt. Intraoperativ trat eine stärkere arterielle Blutung auf. Postoperativ war der Kläger nicht erweckbar. Im CT zeigte sich eine Hirnblutung. Bei der daraufhin erfolgten neurochirurgischen Intervention wurde festgestellt, dass es zu einer Verletzung der Dura, der vorderen Hirnschlagader, und zu einer Durchtrennung des Riechnervs gekommen war. Nachdem die Vorinstanz dem Patienten Ansprüche wegen einer fehlerhaften Aufklärung zugesprochen hatte, hob der BGH diese Entscheidung jetzt auf und verneinte einen Aufklärungsfehler. Die Vorinstanz hatte die Aufklärung als unwirksam angesehen, weil dem Patienten unter Verstoß gegen § 630 e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB keine Bedenkzeit zwischen der Aufklärung über die Risiken des Eingriffs und seiner Entscheidung über die Einwilligung in den Eingriff eingeräumt worden war. Dieser Einschätzung folgte der BGH nicht. Patientinnen und Patienten müssten nach ständiger Rechtsprechung so rechtzeitig aufgeklärt werden, dass sie durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe ihre Entscheidungsfreiheit und damit ihr Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen könnten. Hieraus ergebe sich aber keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Selbstbestimmungsrecht gestärkt Die Entscheidung betont die mit dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten einhergehende Eigenverantwortung. Es könne von ihnen grundsätzlich verlangt werden zu offenbaren, wenn ihnen der Zeitraum für eine besonnene Entscheidung nicht ausreiche. Täten die Patienten dies nicht, so könne die Ärztin oder der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass sie keine weitere Überlegungszeit benötigten. Der Zeitpunkt der Entscheidung sei schlicht „Sache des Patienten“. Sehe dieser sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohl überlegten Entscheidung in der Lage, sei es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Das Gericht sieht sehr wohl, dass dies Patientinnen und Patienten eine gewisse Überwindung kosten mag. Dies sei aber ihrer Selbstbestimmung zuzuordnen und zumutbar. Ordnungsgemäß aufgeklärte Patienten seien nicht passive Objekte ärztlicher Fürsorge. Sie seien vielmehr grundsätzlich dazu berufen, von ihrem Selbstbestimmungsrecht aktiv Gebrauch zu machen und an der Behandlungsentscheidung mitzuwirken. Eine andere Beurteilung ist nach Auffassung des Gerichts allerdings geboten, wenn der Arzt erkennbare konkrete Anhaltspunkte hat, dass die Patientin oder der Patient noch Zeit für eine Entscheidung benötigt. Gleiches gilt, wenn Patienten nicht die Möglichkeit gegeben wird, weitere Überlegungszeit in Anspruch zu nehmen, weil sie zu einer Entscheidung gedrängt werden. Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein und Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung. Patienten können Zeitpunkt der Einwilligung frei wählen

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=