Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 /2023 29 Forum sionen, ADHS und Autismus. Epidemiologische Studien legten eine Erblichkeit der Schizophrenie von 80 bis 85 Prozent nahe, die jedoch in genetischen Studien bei weitem nicht repliziert werden könnten. Dies lasse auf eine erhebliche Beteiligung der Gen-Umwelt-Interaktion schließen, die als Grundlage für die Einzigartigkeit jedes Menschen bezeichnet werden könne. Besonders augenfällig sei das bei getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen, die trotz ihrer genetischen Identität starke Unterschiede aufwiesen. Diese kommen laut Schmidt durch das Epigenom zustande, das sich individuell durch so verschiedene Faktoren wie Bildung, Ernährung, Mikroben, Pilze, Viren und Stress oder auch Traumata zusammensetzt. Zwar stünden, anders als im Tiermodell direkte Beweise beim Menschen noch aus, aber es mehrten sich die indirekten Belege für die Übertragbarkeit erworbener epigenetischer Veränderungen, auch von solchen, die mit der Beeinflussung des Hirnstoffwechsels und psychischer Funktionen beziehungsweise Erkrankungen assoziiert seien. „Mit Psychotherapie beeinflussen wir den Hirnstoffwechsel, sie ist sozusagen ein epigenetischer Faktor, der Stresshormone verändern kann“, sagte Schmidt mit Blick auf die tägliche Arbeit mit den Patienten. Bewältigungsstrategien verändern Privatdozent Dr. Dr. phil. Guido Flatten M.A., Ärztlicher Leiter des Euregio Instituts für Psychosomatik und Psychotraumatologie in Aachen, richtete aus seiner breiten Praxiserfahrung heraus den Blick auf transgenerationale Aspekte bei der Behandlung traumatisierter Menschen. Gewalt- und Traumafolgen wirkten häufig über die Generationengrenzen hinweg und hätten eine hohe klinische Relevanz für psychosomatische Erkrankungen. Dabei finde sich eine Wechselwirkung psychodynamischer, behavioraler und epigenetischer Wege der Transmission, erklärte Flatten. Frühe biografische Belastungen und traumatischer Stress beeinflussten die Persönlichkeitsentwicklung sowie die individuelle Vulnerabilität und Resilienz betroffener Menschen. Langanhaltende Stresseinwirkungen könnten über neurotoxische Effekte zu einer Schädigung des Hippokampus, zu kognitiven Beeinträchtigungen, Gedächtnisstörungen und verstärkter Schmerzwahrnehmung führen. Flatten zeigte zudem anhand klinischer Beispiele die Bedeutung transgenerationaler Aspekte für die Behandlungsplanung Erbanlagen und exogenen Einflüssen, wie zahlreiche Studien belegten. Den Zusammenhang von Epigenetik und transgenerationaler Weitergabe psychischer Erkrankungen sowie die zugrundeliegenden molekularen Mechanismen erläuterte Dr. Ulrike Schmidt, stellvertretende Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Traumatische Erlebnisse könnten Spuren im Epigenom und in der Folge auch dauerhafte Veränderungen bestimmter Körperfunktionen verursachen – beispielsweise bei der Regulation des Stresshormonhaushalts. Vereinzelt könnten solche epigenetischen Veränderungen auch an Nachkommen weitergegeben werden. Bedeutung des Epigenoms Die familiäre Häufung psychiatrischer Erkrankungen untermauerte Schmidt mit einer im Februar 2023 publizierten Studie, nach der die Exposition gegenüber einer schweren Depression in der Familie während der Kindheit und Jugend mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden war. Eine Publikation von 2021 zeige für direkte Nachkommen von Menschen mit Zwangsstörungen ein höheres Risiko für Zwangsstörungen, Schizophrenie, Bipolare Störungen, DepresDass Angsterkrankungen familiär gehäuft auftreten, ist wissenschaftlich erwiesen und legt einen Einfluss des Erbguts nahe. Forscher schätzen den Einfluss der genetischen Veranlagung auf etwa 50 Prozent, jedoch müssen noch Umwelteinflüsse hinzukommen, damit sich eine Erkrankung manifestiert. Wie sich Erkenntnisse aus der Epigenetik in der Psychosomatik anwenden lassen, darüber diskutierten Expertinnen und Experten bei einem Symposium der Aachener Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein. von Ulrike Schaeben Seit gut 20 Jahren werden epigenetische Mechanismen komplexer Krankheiten wie Diabetes mellitus oder Schizophrenie erforscht, die nicht die Gensequenz beeinflussen, sondern durch chemische Schalter dafür sorgen, dass manche Gene schwerer, andere leichter abgelesen werden. Professor Dr. Klaus Zerres, emeritierter Leiter des Instituts für Humangenetik und Genommedizin am Universitätsklinikum RWTH Aachen, vermittelte in seinem Einführungsvortrag beim 4. Aachener Psychosomatik-Tag (AIX-PT) Anfang März die Grundlagen der Epigenetik und betrachtete ihre Rolle für das Verständnis der Anlage-UmweltDiskussion. Mitte der 2000er Jahre hätten Forschungsarbeiten gezeigt, dass komplexe „epigenetische“ Mechanismen, die die Genaktivität regulieren, ohne den DNA-Code zu verändern, in reifen Neuronen langanhaltende Auswirkungen haben. Die Arbeiten hätten Belege für das Vorhandensein nachhaltiger epigenetischer Mechanismen der Genregulierung in Neuronen geliefert, die mit der Regulierung komplexer Verhaltensweisen in Verbindung gebracht wurden, einschließlich Anomalien bei verschiedenen psychiatrischen Störungen wie Depression, Drogenabhängigkeit und Schizophrenie, führte Zerres aus. Die Störungen ließen sich meist nicht auf Mutationen in einem einzigen Gen zurückführen, sondern beträfen mehrere Gene und Signale, die deren Expression steuerten. Die Disposition eines Menschen für komplexe Erkrankungen ergebe sich aus einem Zusammenspiel von meist mehreren Das ist alles nur geerbt!? Dr. Ulrike Schmidt aus Bonn referierte über Epigenetik und transgenerationale Weitergabe psychischer Veränderungen. Foto: Ulrike Schaeben
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