Rheinisches Ärzteblatt 6/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 /2023 41 Kulturspiegel „Helges Leben“ ist ein interessantes und bitterböses Gedankenexperiment, das eine Gruppe junger Nachwuchsschauspielerinnen und -schauspieler mit viel Energie auf die Bühne des Schauspiels Köln bringt. von Jürgen Brenn Seit 2015 gehört das Import Export Kollektiv fest zum Kölner Schauspiel. Die jungen Künstlerinnen und Künstler waren bereits an den kleineren Spielstätten wie „Grotte“ und Depot 2 im Ausweichquartier des Theaters in der Kölner Schanzenstraße zu sehen. Die energiegeladene Spielfreude hat das Kollektiv nun auf die große Bühne des Depot 1 getragen, die es mit Verve singend und tanzend für sich erobert. Als die deutschschweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin Sibylle Berg die satirische Fabel „Helges Leben“ verfasste, waren viele Mitglieder des jungen Ensembles noch nicht geboren, was für sie offenbar ein weiterer Reiz war, sich dieses Stück zu erarbeiten. Die Satire wurde 2000 in Bochum uraufgeführt und ist nun in einer flotten Inszenierung von Saliha Shagasi in Köln zu sehen. Im Jahr 2004 ist die Menschheit ausgestorben, einfach weil sie ihren Überlebenswillen verloren hat. Die Tiere haben das Kommando auf der Erde übernommen, menschliche Eigenschaften entwickelt und den Spieß umgedreht. So wie wir uns über putzige Tierfilme amüsieren, machen sich die Tiere zum Vergnügen einen kurzweiligen Abend mit der Inszenierung eines „normalen kleinen Menschenlebens“. Herr Tapir, gespielt von Erenay Gül, und seine Frau, die er liebevoll „Rehlein“ nennt, gespielt von Feline Przyborowksi, machen es sich mit Knabberzeug und Weingläsern vor ihrer exklusiven Bühne gemütlich. Frau Gott und Frau Tod sind für die Inszenierung des mittelmäßigen Menschenlebens zuständig. Beide stehen auf der Balustrade der bühnenfüllenden Halfpipe und beobachten ihr Werk. Dabei ist nicht auszumachen, ob Frau Gott, gespielt von Dorota Lewandowska, oder Frau Tod, herausragend elegant und beschwingt gespielt von Artosha Jasmin Mokhtare, die bissigeren Kommentare abgibt. Im Schnelldurchgang durchläuft Helge, gespielt von Hanna Nagy, die Lebensphasen von der Geburt über das Jugend- und Erwachsenenalter bis hin zum pflegebedürftigen Greis. Helge hat zwar einen ungewöhnlichen Namen, aber sonst ist er ein mehr als gewöhnlicher Typ ohne nennenswerte wie wir leben wollen und wieviel Raum wir unseren Ängsten geben sollten, ohne uns dadurch selbst in einem Gefängnis mit unüberwindlichen Mauern einzukerkern. Ein emotionaler Lichtblick leuchtet auf, als Helge sich schüchtern und zaghaft in Tina verliebt. Ceren Şengülen mimt die junge Frau. Ganz, ganz langsam rutschen Helge und Tina in der Halfpipe zusammen. Denn nicht nur Helge trägt sein Päckchen Angst. Tina hat derer gleich drei. Todesengeln gleich schwirren die Tina-Ängste um sie herum und sorgen dafür, dass sie trotz der gegenseitigen Zuneigung nicht mit Helge auf Wolke sieben schweben kann. KopfVertauschte Rollen – Wer ist hier die niedere Kreatur? Die vor Spielfreude strotzenden Mitglieder des Import Export Kollektivs spielen „Helges Leben“ von Sibylle Berg in einer Inszenierung von Saliha Shagasi am Schauspiel Köln. Foto: Ana Lukenda Eigenschaften, Ziele oder Energie. Seine ständige Begleiterin, die für viele verpasste Chancen in Helges Leben verantwortlich ist, ist die Angst. Helges Angst, sehr präsent im schwarzglänzenden Mantel gespielt von Sabri Spahija, sitzt Helge von Kindesbeinen an förmlich im Nacken. Sie bremst ihn während seines ganzen Lebens aus. Die Angst ist omnipräsent. Helge hat Angst, nicht zu genügen, Angst, alleine zu bleiben und Angst vor seinen Mitschülern. Er hat Angst vor dem Schweigen seines Vaters und Angst, dass seine Mutter die Familie verlässt, was sie dann auch tut. Auch hat er Angst vor dem eigenen Scheitern und den Erwartungen, die andere an ihn stellen. Er hat Angst vor der Liebe und letztendlich auch davor, nie richtig gelebt zu haben. Die Dramaturgin Sibylle Berg stellt mit der allgegenwärtigen Angst die existenzielle Frage nach der Art, schüttelnd fragen sich derweil Herr und Frau Tapir immer wieder, mit welchem Recht sich die Spezies Mensch als Herrscherin der Welt gesehen hat, obwohl doch ihr Leben mehr als armselig wirkt. Zum Glück können die tierischen Zuschauer immer wieder eine kleine Auszeit von der inszenierten Tristesse nehmen. Von der Bühnendecke schwebt zweimal ein Monitor herab, auf dem amüsante Werbespots gezeigt werden. Das Publikum auf und vor der Bühne kann einen Augenblick verschnaufen, bevor Helges Leben in die nächste Phase eintritt. Am Ende steht ein beruflich durchaus erfolgreicher, aber verbitterter, bösartiger und gewalttätiger Mann. Erst am Schluss seines nicht gelebten Lebens gelingt es Helge, seine Angst zu bezwingen. Aber da ist es zu spät. Informationen unter www.schauspiel.koeln und unter 0221 2212-8400.

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