Rheinisches Ärzteblatt 6/2024

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 / 2024 61 Kulturspiegel Das Theater Essen zeigt in einer fulminanten Inszenierung „Rausch“ nach dem Film von Thomas Vinterberg und Tobias Lindholm in einer deutschsprachigen Erstaufführung. von Jürgen Brenn Der dänische Film „Der Rausch“ von Thomas Vinterberg und Tobias Lindholm aus dem Jahr 2020 räumte 50 Filmpreise ab, unter anderem einen Oscar für den besten internationalen Film. Regisseur Vinterberg selbst hat zusammen mit Claus Flygare das Drehbuch für die Bühne bearbeitet. In Essen feiert das Stück in einer sehenswerten Inszenierung von Armin Petras seine deutschsprachige Premiere am Grillo-Theater. Petras holte für die Inszenierung ein Stück Realität auf die Bühne. Neben den Schauspielerinnen und Schauspielern des Ensembles stehen auch einige Schülerinnen und Schüler eines Essener Gymnasiums vor dem Publikum. Denn es geht um Schüler und vor allem um deren Lehrer. Martin, gespielt von Stefan Diekmann, Nikolaj, gespielt von Mathias Znidarec, Tommy, gespielt von Mansur Ajang und Peter, gespielt von Torsten Kindermann, sind alle etwa gleich alt – im besten Midlife-Crisis-Alter – und gehen mehr oder weniger lustlos ihrem eingefahrenen schulischen Alltagstrott nach. Selbstkritisch sind sie entsprechend unzufrieden mit ihrer Situation, bis der Psychologielehrer Nikolaj im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee entwickelt. Frei nach dem norwegischen Psychiater und Psychotherapeuten Finn Skårderud, wonach der Mensch mit 0,5 Promille Alkohol zu wenig im Blut geboren wurde und deshalb nicht richtig funktioniere. In einem Selbstversuch wollen die vier Freunde die Hypothese überprüfen. Nach Veröffentlichung des Films verwahrte sich der norwegische Psychiater davor, dass er die These vertrete. Dennoch hielt er den Film für amüsant. Die vier Lehrer beschließen, in einem streng wissenschaftlichen Setting für eine gewisse Zeit tagsüber ihren Blutalkoholspiegel konstant bei etwa 0,5 Promille zu halten. Null Komma fünf Promille zu wenig Die Freunde und Lehrer Torsten Kindermann (Peter), Mathias Znidarec (Nikolaj), Mansur Ajang (Tommy) und Stefan Diekmann (Martin) wagen ein folgenschweres Experiment, im Hintergrund Schülerinnen und Schüler eines Essener Gymnasiums, die eng in die Handlung eingebunden sind. Foto: Nils Heck Das Experiment beginnt. In der Thermoskanne, in der früher Tee war, ist nun Hochprozentiges. Es gilt, den Pegel noch vor der ersten Unterrichtsstunde zu erreichen. Plötzlich wird Schule wieder interessant. Der Geschichtslehrer Martin spult nicht mehr nur seine Lehrinhalte vor gelangweilten Schülerinnen und Schülern herunter, sondern wird kreativ. Es gelingt ihm, die Klasse für sein Fach zu begeistern. Ebenfalls wird der Sportlehrer Tommy zum großen Motivator und kitzelt aus den Kindern gute Leistungen heraus. Die vier Männer finden Gefallen an dem Experiment und ihrem permanenten Rausch, der nachmittags und abends meist zu- statt abnimmt. Regelmäßig treffen sich die vier euphorischen Freunde zu einem guten Wein, der, je länger das Experiment andauert, von Flaschen mit härteren Getränken abgelöst wird. Sie erzählen, wie es ihnen im Privatleben und im Unterricht ergeht und sind zumeist hocherfreut, dass ihnen der permanente Rauschzustand zu einer gewissen Lockerheit und einem heiteren, wenn auch verschwommenen Blick auf ihr Leben verhilft. Natürlich diskutieren sie auch, ob und bis wann sie ihr Experiment weiterführen sollen. Vor allem der dänische Philosoph Søren Kierkegaard der von 1813 bis 1855 lebte, muss dann herhalten: „Etwas zu wagen bedeutet, vorübergehend den festen Halt zu verlieren. Nichts zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren“, rezitiert Nikolaj den romantischen Denker aus Kopenhagen. Die Folge: Die Lehrer verabreden, die 0,5-Promille-Grenze deutlich hinter sich zu lassen. Vom Spiegeltrinken hin zum hemmungslosen, täglichen Besäufnis. Bei den Diskussionsrunden kommt es vor, dass jemand vom Stuhl kippt oder sonstige alkoholbedingte motorische Ausfälle zu beobachten sind. Genüsslich wird das kollektive Besäufnis auf der Theater-Bühne zelebriert. Aber was am Anfang wie Slapstick aussieht, nähert sich unausweichlich seinem Kipppunkt. Geschickt lassen die Schauspieler, noch während sie feucht-fröhlich hin und her torkeln und sich vor Lachen nicht mehr einkriegen, das dicke Ende durchscheinen. Der Alkohol entwickelt seine negativen Auswirkungen. Er zerfrisst allmählich die Ehen und das soziale Umfeld. In einem der selten gewordenen nüchternen Momente stellen die vier Lehrer fest, dass sie das Experiment abbrechen müssen, um die negativen Folgen für sich und ihr soziales Umfeld einzudämmen. Tommy, der Sportlehrer, schafft den Absprung von der Flasche nicht. Er stürzt ins Bodenlose. Nicht nur sein Berufsleben hat die Alkoholsucht ruiniert. Am Ende liegt er tot im Hafenbecken. Informationen unter www.theater-essen.de und Tel.: 0201 8122-200.

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