14 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 7 / 2023 Thema – 127. Deutscher Ärztetag Dies ändere jedoch nichts an dem Sachverhalt, dass mit dem Begriff der ärztlichen Freiberuflichkeit ganz zentral die Therapiefreiheit verbunden sei. Diese gelte es zu bewahren, betonte Müller, auch wenn sie nicht schrankenlos sei. Eine Einschränkung gebe es durch das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten. Der oder die Einzelne habe das Recht, frei und selbstbestimmt auch wider ärztliche Vernunft zu handeln – bis hin zum selbstbestimmten Suizid. Umgekehrt dürfe aber auch keine Ärztin und kein Arzt veranlasst werden, eine Therapie durchzuführen, die sie oder er für falsch hält, oder zu Suizidbeihilfe oder Abtreibung genötigt werden. Mit Blick darauf stimmten die Delegierten einem Antrag aus der Ärztekammer Berlin zu, der eine Neuformulierung zum ärztlich assistierten Suizid in der Musterberufsordnung (MBO) vorschlägt. Demnach solle die Bundesärztekammer prüfen, ob neu als § 1 Abs. 3 MBO angefügt werden kann: „Die Mitwirkung bei der Selbsttötung (assistierter Suizid) ist grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe. Sie ist bei schwerer oder unerträglicher Erkrankung nach wohlabgewogener Gewissensentscheidung im Einzelfall zulässig.“ Damit werde in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 26. Februar 2020 klargestellt, dass die indikationslose Suizidassistenz grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe sei, Ärztinnen und Ärzte nicht zur Suizidassistenz verpflichtet werden dürften, gleichwohl aber im Einzelfall bei Patienten mit schwerer Erkrankung und sehr hohem Leidensdruck auf Wunsch tödlich wirksame Medikamente zur Verfügung stellen könnten. Undurchdringliches Regelungsdickicht Als weitere Einschränkungen der ärztlichen Therapiefreiheit wies Bundesverfassungsrichter Müller auf bestehende staatliche Regulierungen hin. Und hier wünsche er sich einen Gesetzgeber, der nicht durch kleinteilige Vorgaben einen bürokratischen Mehraufwand von mehreren Stunden täglich produziere, der letztlich zulasten einer guten Arzt-Patienten-Beziehung gehe. „Im Grunde ist es der Patient, der dadurch Schaden davonträgt“, sagte Müller. Das fast schon undurchdringliche Regelungsdickicht im Gesundheitswesen und der damit einhergehende Kontrollgedanke widersprächen der Idee des freiheitlichen Grundgesetzes. Dabei dürfe Freiheit nicht missverstanden werden als das Recht, zu tun und zu lassen, was man will, präzisierte Müller. Sondern es gehe insbesondere auch um die Freiheit, seine Bindungen selbst zu wählen. Hier wäre der Gesetzgeber nach dem Subsidiaritätsprinzip gut beraten, der ärztlichen Selbstverwaltung mehr Gelegenheit zur Schaffung von Räumen zu geben, in denen sich freiheitliches Handeln entwickeln kann. „Wir müssen ernst machen mit der immer wieder genannten Entbürokratisierung. Wenn wir ein nach vorne denkendes Gemeinwesen sein wollen, ist eine Umkehr im Interesse der Patienten nötig“, schloss Müller unter dem stürmischen Applaus der ÄrztetagsDelegierten seine Ausführungen. Vielen Ärztinnen und Ärzten sei dies nicht klar. Dabei stehe die Freiberuflichkeit aktuell unter großem Druck; deshalb sei es extrem wichtig, auch innerhalb der eigenen Profession auf die Wesensmerkmale ärztlicher Freiberuflichkeit hinzuweisen. Bundesverfassungsrichter Müller hielt – wenn auch wenige – mahnende Worte für die Ärztetags-Delegierten bereit. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Rechtsprechung stets die Bedeutung der Freiberuflichkeit anerkannt, führte Müller aus. Es gelte jedoch, Grenzen der Kommerzialisierung zu beachten; freiberufliche Tätigkeit sei nicht der geeignete Ort für die Erprobung marktradikaler Ansätze. „Wer permanent nach Freiheit im wirtschaftlichen Handeln schreit, sollte sich nicht wundern, wenn Stimmen laut werden, die die Einbeziehung in die Gewerbesteuer fordern.“ „Ärztinnen und Ärzte üben unabhängig von Stellung und Ort der ärztlichen Tätigkeit einen freien Beruf aus. … Ärztinnen und Ärzte richten ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten aus, unabhängig von kommerziellen Erwartungen Dritter. Die individuelle Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfordert Rahmenbedingungen, die eine freie Berufsausübung sicherstellen. Die Freiheit, für das Wohl der Patientinnen und Patienten zu handeln, ist das Fundament der besonderen Vertrauensbeziehung der Patientinnen und Patienten zu ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten. … Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession sind untrennbar mit der ärztlichen Selbstverwaltung als Organisationsprinzip verbunden. … Die Ärztekammern stehen für das Prinzip der professionellen Selbstkontrolle, für die Einhaltung der ärztlichen Standards und ethischen Grundsätze und damit für die Qualität einer patientenzentrierten medizinischen Versorgung. … Unzureichende finanzielle und personelle Ressourcen trotz steigendem Behandlungsbedarf, eine zunehmende Kommerzialisierung in der Medizin, staatsdirigistische Eingriffe in die Selbstverwaltung sowie eine überbordende Kontrollbürokratie führen derzeit jedoch zu enormer Arbeitsverdichtung und vielfach auch Überlastung der Berufe im Gesundheitswesen. Eine medizinische Versorgung auf hohem Niveau für eine sich im demografischen Wandel befindende Gesellschaft ist unter diesen Voraussetzungen auf Dauer nicht zu gewährleisten. … Die Ärzteschaft fordert eine systematische und strukturelle Einbindung bei allen gesundheitspolitischen Prozessen, Reformvorhaben und Gesetzesverfahren. Diese Einbindung ist eine grundlegende Voraussetzung für eine medizinisch- wissenschaftlich fundierte, qualitativ hochwertige, auf ethischen Normen und Werten beruhende, verantwortliche und patientenzentrierte Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung für die Menschen in unserem Land. Zentrale Punkte der Essener Resolution (Langfassung unter www.baek.de/essenerresolution)
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=