28 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 7 / 2023 Forum Wenn das Selbstbild krank macht Nach der Binge Eating Störung und der Bulimia nervosa steht die Anorexia nervosa an dritter Stelle der am häufigsten verbreiteten Essstörungen in Deutschland. Sie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalität. Die Coronapandemie hat die Zahl der Betroffenen noch einmal erheblich ansteigen lassen. Neue Behandlungsstrategien setzen auf die Familie als Ko-Therapeuten. von Vassiliki Temme Im Jahr 2020 wurden dem Unternehmen Statista zufolge in deutschen Krankenhäusern 7.355 Fälle von Magersucht diagnostiziert. 30 Menschen starben an der Erkrankung. Die Betroffenen leiden in der Regel an einer Körperbildstörung. Sie sind unzufrieden mit ihrem eigenen Körper und empfinden sich – unabhängig von ihrem Gewicht – als zu dick. Dies führt dazu, dass sie immer weiter an Gewicht verlieren – Abnehmen ist das ausschließliche Ziel. Wie die KiGGS-Basisuntersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des Robert Koch-Instituts belegt, spielen bei den Essstörungen neben biologischen Einflüssen – wie etwa genetische oder hormonelle Faktoren – auch gesellschaftliche und soziokulturelle Ursachen eine Rolle: Neben dem Geschlecht, Migrationshintergrund und Gewichtsstatus seien insbesondere emotionale Probleme und die subjektive Wahrnehmung des eigenen Körpers relevante Risikofaktoren für die Entwicklung von Essstörungssymptomen. Über 20 Prozent der elf- bis 17-jährigen Jungen und Mädchen wiesen solche Symptome auf. Mädchen waren mit steigendem Alter häufiger betroffen. Der Einstieg in eine Anorexia nervosa finde nicht selten über eine harmlos wirkende Diät statt, erklärte Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann bei einer Online-Fortbildung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN). Die Sozialen Medien spielten dabei eine immer größere Rolle, vor allem sogenannte Fitness- und Food-Influencer. Diese propagierten ein Schlankheitsideal, welches Leistungsdruck und Perfektionismus auslöse. „Patientinnen haben einen extrem hohen Anspruch an sich, der macht Patientinnen mit Magersucht leiden in der Regel an einer Körperbildstörung. Sie sind unzufrieden mit ihrem eigenen Körper und empfinden sich – unabhängig von ihrem Gewicht – als zu dick. Foto: alisseja/stock.adobe.com Professorin Dr. Beate Herpertz-Dahlmann und ihr Team an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen haben anhand von Daten der Techniker Krankenkasse die Anorexia nervosa-bedingten Aufenthalte während der Coronapandemie untersucht. Danach hat sich die Zahl der Kinder bis 14 Jahre, die zwischen 2019 und 2022 stationär behandelt werden mussten, deutlich erhöht. Ein Absinken auf das Niveau von vor der Pandemie zeichne sich zurzeit nicht ab, erklärte Herpertz-Dahlmann bei der Fortbildungsveranstaltung des IQN. Mit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 seien die Fallzahlen zunächst deutlich gesunken. Dies lasse sich darauf zurückführen, dass die Menschen die Klinik aus Angst vor Ansteckung gemieden hätten. Nach den Lockdowns seien die Fallzahlen dann jeweils wieder gestiegen. Aus Sicht der Wissenschaftler belegen die Daten, dass die Pandemie in der Psyche der Kinder und Jugendlichen deutliche Spuren hinterlassen hat. Feste Strukturen wie der Schulbesuch und persönliche Kontakte seien weggebrochen, Einsamkeit und Langeweile hätten zugenommen. Auch hätten Kinder und Jugendliche während der Pandemie viel mehr Zeit mit den Sozialen Medien verbracht mit dem Nebeneffekt, dass sich viele viel zu wenig bewegt und an Gewicht zugenommen hätten. Das habe manche zu Diäten veranlasst, die in eine Essstörung mündeten. Anorexia nervosa in der Pandemie es ihnen auch schwer, eine Therapie wahrzunehmen. Sehr viele möchten gar nicht gesund werden“, sagte die Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen. Der Weg heraus aus der Essstörung sei ein langer Prozess. Wenn Essen das Leben bestimmt Kein Fett, kaum Kohlenhydrate: Oftmals entwickelten Betroffene Rituale, wie beispielsweise das Zählen von Kalorien oder den ständigen Gang auf die Waage. Viele trieben exzessiv Sport und nähmen nur ganz bestimmte Lebensmittel zu sich. Einige erbrächen auch willentlich und benutzten Abführmittel, um ihr Gewicht weiter zu senken. „Anorexia nervosa geht immer mit einem enormen Gewichtsverlust einher, man könnte sagen mit einer Gewichtsphobie“, so Herpertz-Dahlmann. „Ich appelliere aber an die Pädiater, nicht nur auf die Waage zu schauen. Denn allzu oft wird das Problem nicht ernst genommen, weil das Gewicht laut BMI-Perzentile eben noch nicht niedrig genug ist.“ Besonders Patientinnen und Patienten, die an einer atypischen Form der Anorexia nervosa litten, seien davon betroffen. Dünne Kinder und
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