Rheinisches Ärzteblatt 7/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 7 /2023 29 Praxis Jugendliche, die ein normales Essverhalten aufwiesen, sollte man lieber einmal zu viel als zu wenig untersuchen. „Um zu erkennen, ob eine Essstörung vorliegt, spielen viele Faktoren eine Rolle: Haben Mädchen noch eine Menstruation? Sind Eltern und Geschwister auch dünn? Wie sind die Blutwerte und wie ist der BMI nach KiGGS?“, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zunehmend seien auch Jungen und Männer von Anorexia nervosa betroffen, allerdings sei die Erkrankung bei ihnen anders ausgeprägt. Man sehe oft eine ausgeprägte Muskulatur, da die Betroffenen sehr exzessiv Sport trieben. Herpertz-Dahlmann schilderte den Fall eines 19-jährigen Patienten, der mit einer Herzfrequenz von 30 in einer Kardiologie vorgestellt wurde. „Niemand konnte sich seinen Zustand erklären. Er hatte massive Ödeme, kam daraufhin in eine Rheumatologische Klinik, auch dort fand man keine Ursache. Keiner kam auf die Diagnose Magersucht. Als er schließlich zu uns in die Klinik kam, war er schwerstkrank und depressiv.“ Problematisch sei das Krankheitsbild der Anorexia nervosa auch, weil es häufig mit Depressionen und Angsterkrankungen einhergehe. Zudem leide der Körper massiv unter dem Nahrungsentzug. „Die somatischen Konsequenzen sind so schwerwiegend wie die psychischen“, erklärte die Kinder- und Jugendpsychiaterin. Körper und Geist leiden Der starke Gewichtsverlust und die meist damit verbundene Mangelversorgung bleiben auf Dauer nicht ohne Folgen für den Organismus. Privatdozent Dr. Jochen Seitz, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der RWTH Aachen erklärte: „Der Körper läuft nur noch auf Sparflamme. Die Körpertemperatur fällt ab, der Blutdruck sinkt, das Herz schlägt langsamer. Viele Magersüchtige frieren schnell, haben kalte Hände und Füße. Durch die verringerte Nahrungsaufnahme verzögert sich die Magenentleerung, und der Darminhalt benötigt mehr Zeit für die Darmpassage – es kommt leicht zur Verstopfung. Bei einem starken Eiweißmangel lagert sich Flüssigkeit im Gewebe ab, es entstehen Ödeme.“ Typisch sei auch die sogenannte LanugoBehaarung: An Armen, Rücken und im Gesicht entwickele sich eine flaumartige, feine Behaarung, weil der Körper versuche, seinen Wärmehaushalt zu regulieren. „Hinzu kommt die Hyperaktivität, dieser ständige Bewegungsdrang, der auch dazu führen kann, das Schlaf enorm reduziert wird“, sagte Seitz. „Wir wissen heute, dass dafür das Hormon Leptin zuständig ist. Es triggert, so Forschungen, wohl den Futtersuchreflex bei Säugetieren.“ Auch zahlreiche endokrine Veränderungen, wie erhöhtes Cortisol, veränderte Schilddrüsen- und Sexualhormone seien zu beobachten. „Man sieht Veränderungen im EKG, im Blutbild und sogar im MRT“, so Seitz. Auf die Frage nach einem sinnvollen Medikament antwortete der Kinder- und Jugendpsychiater: „Das sinnvollste Medikament ist Essen. Neuroleptika können anfangs gegen die Ängste helfen, und natürlich erhalten unsere Patientinnen Medikamente gegen ihre Magen-Darm-Probleme, die es auch in den Griff zu kriegen gilt.“ Ein Weg hinaus „Wenn niedergelassene Kolleginnen und Kollegen einen rapiden Gewichtsverlust beobachten, die körperliche Gefährdung zu hoch ist, man exzessiven Bewegungsdrang oder gar Suizidalität registriert, sollte stationär behandelt werden“, riet Kinder- und Jugendpsychiaterin Herpertz-Dahlmann. In den vergangenen Jahren habe sich die Essstörungs-Therapie enorm weiterentwickelt. Man wisse heute, dass das Zielgewicht zwar besonders wichtig, aber sehr viel individueller sei, als bislang angenommen. Unterschiede gebe es auch beim Therapieerfolg zwischen Kindern und Erwachsenen. Bei 40 Prozent der Erwachsenen sei nach der Therapie eine Remission zu beobachten. „Allerdings ist die Mortalität sehr hoch, und viele von ihnen haben eine psychische Störung, die sie ein Leben lang begleitet.“ Bei Kindern und Jugendlichen sei die Prognose deutlich besser, es gebe kaum Todesfälle. Eine absolute Heilung sei definitiv möglich: „80 Prozent, der Kinder- und Jugendlichen, die an Anorexia nervosa erkranken und in eine stationäre Behandlung kommen, führen irgendwann wieder ein normales Leben“, erklärte Herpertz-Dahlmann. Die meisten benötigten allerdings Jahre bis dahin. Gemeinsam heilen Das berichtete bei der IQN-Veranstaltung auch die ehemalige Patientin Friederike. Die junge Frau erkrankte mit 14 Jahren an Magersucht. Alles fing mit einer harmlosen Diät an, die schnell zum Selbstläufer wurde. Heute ist sie gesund und froh über die Therapie: „Der Anfang fiel mir am schwersten. Die Gewichtszunahme war schmerzhaft, aber wichtig. Das sieht man natürlich erst im Nachhinein“, sagte die ehemalige Patientin. In der Klinik habe sie sich allerdings von ihrer Familie abgeschnitten gefühlt. „Heutzutage setzt man in der Essstörungs-­ Therapie zunehmend auf die Familie, das alte System mit der Trennung von Patientin und Angehörigen ist überholt“, betonte Dr. Brigitte Dahmen, M.Sc, Oberärztin der Kinderpsychosomatischen Station KIPS an der RWTH Aachen. Es gebe keine stationäre Therapie mehr ohne Elternkontakt. „Die Familie ist als Co-Therapeut immens wichtig, sie muss effizient involviert und angeleitet werden“, so Dahmen. Das Problem sei in der Regel, dass nach dem stationären Aufenthalt die ambulante Anschlusstherapie und Übungen für zu Hause fehlten. Neue Therapieansätze aus dem englischsprachigen Raum zeigten zudem, dass auch ambulante Therapien zum Erfolg führten und ein Weg für die Zukunft sein könnten. Das Elternnetzwerk Magersucht e.V. will die Heilungschancen von Kindern und Jugendlichen fördern, die an einer Essstörung erkrankt oder davon bedroht sind, sowie Eltern, Angehörige und Fachleute im deutschsprachigen Raum vernetzten. Familien von an Magersucht Erkrankten sollen ermutigt werden, eine aktive Rolle bei deren Gesundung einzunehmen. Wichtiger Bestandteil sind dabei Online-Selbsthilfegruppen von Eltern für Eltern, mit dem Ziel, die Betroffenen im häuslichen Umfeld zu betreuen. Weitere Informationen unter https://elternnetzwerk-magersucht.de Eltern helfen Eltern

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