Rheinisches Ärzteblatt 8/2023

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 8 / 2023 21 Praxis „Sprechen über das, was belastet, tut grundsätzlich gut! Seit Generationen ist bekannt, dass das ,sich von der Seele reden‘ die Psyche entlastet.“ Dr. Stefan Spittler weiß, wovon er spricht. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie steht seit dem vergangenen Jahr im Auftrag der Ärztekammer Nordrhein als Ansprechpartner für Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, die Entlastung oder Hilfe bei belastenden oder traumatisierenden Erfahrungen im Beruf suchen. von Thomas Gerst Dr. Spittler kann mittlerweile bereits auf eine Vielzahl von Fällen in den vergangenen Monaten zurückschauen. Im Durchschnitt erreiche ihn etwa alle zehn Tage der Anruf einer Kollegin oder eines Kollegen, die oder der sich durch die berufliche Tätigkeit extrem belastet fühle, erläutert er im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Das Spektrum der Fälle, mit denen sich Betroffene anonym bei ihm meldeten, sei recht groß. Da gebe es zum Beispiel Kollegen, die sich durch die schweren Schicksale ihrer Patienten in der eigenen psychischen Erlebnisfähigkeit erheblich beeinträchtigt fühlten; andere seien von Patienten oder deren Angehörigen in der Praxis massiv verbal und/oder physisch bedroht worden und könnten zum Beispiel seitdem bei Patientenkontakten aus Angst nicht mehr auf die Anwesenheit einer Mitarbeiterin verzichten; leitende Ärztinnen und Ärzte erlebten die Kommunikation mit der Geschäftsführung im Spannungsfeld zwischen ärztlichem Handeln und Wirtschaftlichkeit als extrem belastend. Dr. Spittler nimmt dabei seine Kolleginnen und Kollegen oft als Einzelkämpfer wahr, die nicht dazu neigten, sich zum Beispiel im Kollegenkreis über Vorfälle dieser Art auszutauschen. „Es besteht oft die Ansicht, selbst damit fertig werden zu müssen und unprofessionell zu sein, wenn man Unterstützung erfragt oder benötigt.“ Für den Psychiater und Psychotherapeuten besteht die „erste Hilfe“, die er in diesen Fällen am Telefon leisten kann, zunächst darin „nur“ zuzuhören. Oft sei es für die Anrufer sehr wichtig, dass „einfach mal“ jemand ansprechbar ist. Häufig helfe bereits allein das. Zudem könne er bei diesen Gesprächen den Austausch anbieten über Erfahrungen, die von ihm selbst oder anderen in den angesprochenen Situationen gemacht worden seien, erklärt Spittler. Diese Intervention vergleicht er mit einem Peer-ReviewProzess: „Hier ist ein Erfahrener, der sich mit Betroffenen austauscht.“ In der Regel reichten schon zwei bis drei Telefonate mit den betroffenen Ärzten aus. Als Rückmeldung komme bei ihm oft an: „Es tut gut, dass wir uns einmal aussprechen konnten.“ Christa Bartels und Dr. Christiane Groß vom Vorstand der Ärztekammer Nordrhein und gemeinsame Vorsitzende des ÄkNo-Ausschusses „Ärztegesundheit“ haben sich nach langjähriger Befassung mit dem Thema für die Einrichtung des Hilfsangebots bei der Ärztekammer Nordrhein stark gemacht. „Ich bin sehr froh, dass dieses Angebot so gut angenommen wird“, sagt Christa Bartels, Fachärztin für Nervenheilkunde und Ärztliche Psychotherapeutin. Wichtig erscheint es ihr, diese Möglichkeit einer anonymen Krisenintervention noch einmal allen Kollegen in Erinnerung zu rufen. Bisher nutzten dieses Angebot insbesondere diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die nach einer traumatischen Erfahrung in ihrer beruflichen Tätigkeit belastet waren. Auch in Verbindung mit einem Behandlungsfehlervorwurf kann diese psychische Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen oft hilfreich und entlastend sein. Diesen Ärzten in Not müsse deutlich vermittelt werden, dass das Angebot einer von der Ärztekammer bereitgestellten, auf Wunsch auch anonymen Krisenintervention nichts mit einer juristischen oder berufsrechtlichen Bewertung des Geschehenen zu tun hat. Es gehe hier nicht um Klärung der Schuldfrage, betont Bartels. Notärzte besonders betroffen Wie dringend notwendig auch hierzulande die Schaffung von geeigneten Interventionsmöglichkeiten ist, zeigt eine aktuelle Studie im International Journal of Environmental Research and Public Health (2023, 20 [5], 4267). Bei einer Befragung, an der 401 Notärzte in Deutschland teilnahmen, gab mehr als die Hälfte (213/53,1 %) an, schon mindestens einmal mit einem Vorfall, sei es ein eigener Fehler oder ein unerwartet negativer Behandlungsverlauf, konfrontiert gewesen zu sein, der sie als Second Victim belastet habe. Bei vielen der Betroffenen (66/31 %) habe es länger als einen Monat gedauert, bis sie über das belastende Ereignis hinweggekommen seien, 24 Betroffene hatten sich zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht davon erholt. Die Studie zeige, schreiben die Autoren, dass es insbesondere in der notärztlichen Versorgung häufig zu Second Victim: Ärztekammer bietet Hilfe an Das Spektrum der Belastungen für Ärzte ist groß. Es reicht von Patientenschicksalen über Gewalterfahrungen bis hin zu Behandlungsfehlern. Foto: Robert Kneschke/stockadobe.com

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