Thema Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 13 Kosten sich 2022 gegenüber dem Vorjahr allerdings nicht erhöht hätten. 18 neue Krebsmedikamente wurden im Untersuchungszeitraum eingeführt – die größte Gruppe mit neuen Arzneistoffen. Doch bei elf von 17 bewerteten Arzneimitteln gilt dem AVR zufolge ein Zusatznutzen als nicht belegt oder nicht quantifizierbar. Der Grund: Viele Onkologika durchliefen ein beschleunigtes Zulassungsverfahren, in dem häufig nur eine Beeinflussung von Surrogatendpunkten wie die Ansprechrate der Tumorerkrankung oder das progressionsfreie Überleben gezeigt werde. Die hohen Preise für neue Arzneimittel seien kein deutsches Phänomen, erklären die Autoren des AVR. Sie würden in vielen Ländern als Belastung für die Patienten und die Gesundheitssysteme angesehen. Die Folge: Wirksame neue Medikamente sind zwar in der gesamten Europäischen Union zugelassen, aber längst nicht überall verfügbar. Das belegen Recherchen von NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und dem Rechercheverbund „Investigate Europe“, die Mitte Juni veröffentlicht wurden. Die Journalisten hatten das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gebeten, unter den Neuzulassungen der vergangenen fünf Jahre diejenigen Arzneimittel mit einem erheblichen oder beträchtlichen Zusatznutzen auszuwählen. Sämtliche der 32 infrage kommenden Medikamente, zu denen beispielsweise auch Kaftrio gegen Mukoviszidose gehört, werden den Recherchen zufolge nur in Deutschland und Österreich von den Krankenkassen bezahlt. In Estland, Lettland und Litauen waren rund 30 Prozent der Arzneimittel nicht für die Patienten des öffentlichen Gesundheitsdienstes verfügbar, in Zypern fehlte die Hälfte, in Malta fehlten 59 Prozent und in Ungarn sogar drei Viertel der neuen Medikamente. Viele Pharmafirmen würden ihre Medikamente gar nicht erst auf den Markt bringen, wenn der Marktanteil klein zu bleiben drohe, heißt es in einem Bericht der Tagesschau („Tödliche Preise“, 13. Juni 2024). Und viele Sozialsysteme seien mit den Kosten schlicht überfordert. Der Preis spiegelt den Wert Im Juni 2022 hatte der Deutsche Ethikrat die hohen Preise bei neuen Arzneimitteln zum Thema seiner Jahrestagung gemacht. Angesichts begrenzter Ressourcen in einem solidarischen Gesundheitswesen gelte es, „die Ansprüche von allen Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen“, hieß es damals in der Tagungsankündigung. Doch die Unternehmen argumentieren bei ihrer Preisgestaltung längst nicht mehr mit Entwicklungs-, Produktions- und Vertriebskosten. Die Preise sollten vielmehr den Wert der Arzneimittel für den Einzelnen und die Gesellschaft widerspiegeln, heißt es aus dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Der Hersteller von Libmeldy, Orchard Therapeutics, vermarktet das Präparat unter dem Namen Lenmeldy seit 2024 auch in den USA – für umgerechnet 3,8 Millionen Euro für die einmalige Gabe. In die Preisgestaltung seien neben dem Wert des Medikaments für die Betroffenen und deren Familien auch die langfristigen Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, die Verringerung des Produktivitätsverlusts der Pflegenden sowie die Lebenschancen der Patientinnen und Patienten eingeflossen. Dazu komme, so argumentiert der vfa, dass die Therapieansätze in den letzten Jahren zunehmend zielgerichteter geworden seien und immer häufiger der Behandlung eng definierter Patientengruppen dienten. Bei immer kleineren Patientenzahlen sei es ökonomisch nur naheliegend, dass die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten nicht gleich hoch bleiben könnten, zumal der Aufwand für Forschung und Entwicklung mindestens gleichbleibe. Geheime Erstattungsbeträge Um angesichts extrem hochpreisiger Therapien die Finanzierbarkeit der Arzneimittelversorgung zu sichern, werden schon seit Längerem alternative Erstattungsmodelle diskutiert, darunter sogenannte Pay-for-Perfomance-Modelle, bei denen die Höhe der Vergütung davon abhängt, ob zwischen Hersteller und Kostenträger vereinbarte Therapieziele erreicht wurden – ein Ansatz, den auch Orchard Therapeutics in den USA verfolgt. Auf der Wunschliste der Pharmaunternehmen ganz oben steht darüber hinaus auch, Erstattungsbeträge, die im Rahmen von Preisverhandlungen mit den Kostenträgern vereinbart wurden, vertraulich zu behandeln. Mit der Preistransparenz im Rahmen des AMNOG-Verfahrens hatte Deutschland europa- und weltweit bislang quasi ein Alleinstellungsmerkmal. Die deutschen Erstattungsbeträge für neue patentgeschützte Medikamente dienen mithin in vielen Ländern als Referenzpreise, was der Pharmaindustrie schon seit Beginn des AMNOG-Verfahrens ein Dorn im Auge ist, weil es ihren Verhandlungsspielraum einschränkt. Umgekehrt argumentiert der vfa, die Offenlegung der Erstattungsbeträge verhindere mögliche höhere Rabatte in Deutschland. Mit dem Medizinforschungsgesetz, das der Deutsche Bundestag am 4. Juli verabschiedet hat, ist der Gesetzgeber der Industrie jetzt in diesem Punkt entgegengekommen. Bei Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen haben die Hersteller zunächst befristet auf dreieinhalb Jahre die Option, Vertraulichkeit über die mit den Kassen verhandelten Erstattungsbeträge zu vereinbaren. Voraussetzung ist, dass die Unternehmen in Deutschland klinische Forschung betreiben. Zu den schärfsten Kritikern dieser Regelung gehören die Krankenkassen. So warnt der AOK-Bundesverband, durch die neue Preisintransparenz drohten „Kostensteigerungen in Milliardenhöhe ohne einen Mehrwert in der Versorgung“. Es gehöre nicht zur Aufgabe der GKV, internationale Standortpolitik für einzelne Industriezweige zu finanzieren.
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