Rheinisches Ärzteblatt 9/2024

16 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 Spezial nieder: Der Gesundheitsreport der AOK Rheinland/ Hamburg aus dem Jahr 2022 zeigte, dass Kinder in den sozial schwächeren Vierteln Kölns eher zu Sprachentwicklungsstörungen, Allergien, motorischen Entwicklungsstörungen oder Süchten neigten als Kinder aus einkommensstärkeren Verhältnissen. Ebenfalls verbreitet ist in den sozial schwachen Gegenden starkes Übergewicht: So waren dem Report zufolge beispielsweise 8,6 Prozent der Chorweiler Kinder adipös — fast doppelt so viele wie in der Kölner Innenstadt. „Die Gründe hierfür sind vielseitig“, sagt die in Köln-Chorweiler arbeitende Sozialpädagogin Birgit Skimutis im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Häufig mangle es bei den Familien schlichtweg an ausreichendem Wissen über gesunde Ernährung, nicht selten würden Süßigkeiten genutzt, um Kinder zu belohnen oder quengelnde Kinder ruhigzustellen. Auf dem Speiseplan stehe häufig fettiges Essen und viel Weißbrot. Bereits kleine Kinder bekämen von ihren Eltern süße Limonaden in ihre Trinkfläschchen gefüllt. Der einfache Grund: Die ungesunden Speisen machten schnell satt und seien obendrein erschwinglich, so Skimutis. Die Sozialpädagogin leitet in Chorweiler die Kümmerei, ein Hilfsangebot, das Ratsuchenden, die sich im Gesundheits- und Sozialsystem nur schwer bis gar nicht zurechtfinden, seit 2021 Orientierung bietet. Die Ärztinnen und Ärzte aus dem Viertel verweisen ihre Patienten häufig an die Kümmerei, wenn sie bei der Untersuchung Probleme feststellen, die über das Medizinische hinausgehen. Folglich unterstützt das multiethnische und multiprofessionelle Team der dortigen Gesundheitslotsen bei Schimmel in der Wohnung, übersetzt Arztbriefe in andere Sprachen und erarbeitet nun seit Neustem gemeinsam mit den Chorweiler Kindern Ideen, wie sie ein gesünderes Leben führen können. „Die örtlichen Kinderärzte haben uns zurückgemeldet, dass sie zahlreiche kleine Patientinnen und Patienten haben, die unter Adipositas leiden. Doch häufig mangelt es im Praxisalltag schlichtweg an Zeit, um sich detailliert mit den individuellen Lebensumständen der Familien und den daraus resultierenden Ursachen von Adipositas zu beschäftigen“, sagt Skimutis. Häufig zeigten die Eltern auch kein Problembewusstsein. Das starke Übergewicht der Kinder werde im Arztgespräch kleingeredet oder abgetan. Auf Initiative eines engagierten Kinderarztes aus der Nachbarschaft habe die Kümmerei deshalb ein Projekt aufgelegt, um mehr über die Lebenswirklichkeit der Chorweiler Kinder herauszufinden. Mangelt es im Stadtteil Chorweiler an Spielplätzen? Werden diese nicht genutzt, weil sie verdreckt sind? Oder haben sich die Interessen der Kinder — insbesondere seit Corona — in digitale Welten verlagert? Über Fragen wie diese diskutieren die Gesundheitslotsen der Kümmerei regelmäßig mit elf Kindern und Jugendlichen zwischen zwölf und neunzehn Jahren aus dem Viertel. Deren Familien stammen aus der Türkei, aus Afghanistan, dem Iran, aus Bulgarien oder der Ukraine. „Auf lange Sicht wollen wir die von den Kindern erarbeiteten Ideen dann für alle adipösen Kinder in Chorweiler umsetzen“, sagt Skimutis. Epidemie Adipositas Nicht nur in Köln-Chorweiler ist die Zahl der stark übergewichtigen Kinder hoch. Auch in den sozial schwächeren Kölner Stadtteilen Kalk und Mülheim ist Adipositas bei Kindern verbreitet. Dabei bleiben die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Kindesalter oft ein Leben lang: Aus vielen adipösen Kindern werden adipöse Erwachsene, deren Risiko für Diabetes mellitus und Herz-KreislaufErkrankungen deutlich erhöht ist. Von ihren Mitschülern werden stark übergewichtige Kinder nicht selten gehänselt und schikaniert, worunter die seelische Gesundheit leidet, bei manchen Kindern sind Depressionen die Folge. In der Schule haben diese Kinder häufig mehr Fehlzeiten und zeigen schlechtere Leistungen. Die Coronapandemie habe die Situation zusätzlich verschärft, erklärt Professorin Dr. Stephanie Stock im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Die Ärztin und Gesundheitsökonomin leitet kommissarisch das Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Universitätsklinik Köln und ist zugleich Konsortialleiterin des Projekts frühstArt, ein nordrheinweites Versorgungsangebot für übergewichtige Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Das aufsuchende Angebot soll Stock zufolge die kinderärztliche Regelversorgung ergänzen und dabei helfen, die gesundheitlichen Ressourcen von betroffenen Familien zu stärken. Kinderärzte können ihre stark übergewichtigen kleinen Patienten in das Projekt einschreiben. Im Interventionsarm der Studie werden Familien ein Jahr lang zu Hause von einem speziell fortgebildeten Coach begleitet, der sich ein Bild von den Lebensumständen der Familien macht und ihnen praxisnahe Tipps für mehr Bewegung, eine bessere Ernährung, geregeltere Zubettgeh-Zeiten sowie einen reduzierten Medienkonsum an die Hand gibt. Die Coaches haben Stock zufolge in der Regel eine Ausbildung als Ernährungs- oder Gesundheitswissenschaftler oder zum Sporttherapeuten absolviert. Zusätzlich erhielten sie eine Schulung zum Adipositas-Trainer. Bestehe bei Familien ein besonderer Unterstützungsbedarf, könnten die Kinder eine ambulante Reha absolvieren, die in der Sporthochschule Köln durchgeführt wird. An zwei Tagen in der Woche würden für die Kinder dann Spiel, Spaß und Bewegung auf dem Programm stehen. „Wir wollen aus den Kindern keine Hochleistungssportler machen. Das Angebot ist auch nicht als Physiotherapie zu verstehen. Wir möchten, dass die Kinder Spaß an der Bewegung entwickeln“, sagt Stock. Die in der Reha angebotenen Sportarten seien dabei so gewählt, dass sie auch zuhause mit nur wenigen Hilfsmitteln weitergeführt werden könnten. Unter anderem stünden Ballsport und Ausdauerübungen mit einem Springseil auf dem Plan.

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