Rheinisches Ärzteblatt 9/2024

Gesundheits- und Sozialpolitik Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 19 Die EU-Medizinprodukteverordnung sollte mit strengeren Regeln die Patientenversorgung sicherer machen. Doch nun drohen Versorgungslücken. Betroffen sind insbesondere Produkte, die nur selten eingesetzt werden, etwa Herzkatheter oder Gefäßstützen, wie sie in der Kinderkardiologie oder der Neonatologie eingesetzt werden. Aufwand und Kosten für die (Re-)Zertifizierung seien zu hoch, klagen vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Inzwischen mehren sich die Stimmen aus Politik und Ärzteschaft, die eine gründliche Überarbeitung der Verordnung fordern. von Heike Korzilius Die rasche Überarbeitung der EUMedizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) sei eine Priorität der größten Fraktion im Europäischen Parlament, EVP, für die nächste Legislaturperiode, erklärte deren gesundheitspolitischer Sprecher, der deutsche CDU-Politiker Dr. Peter Liese, kurz nach der Europawahl im Juli dieses Jahres. Die Reform des Medizinprodukterechts sei gut gemeint gewesen, aber in einigen Bereichen schade die MDR mehr als sie nütze. „Vor allem Produkte für herzkranke Kinder sind in Gefahr vom Markt zu verschwinden, weil der bürokratische Aufwand so hoch ist, dass es sich für Unternehmen nicht mehr lohnt, solche Produkte, die in nur geringer Stückzahl produziert werden, herzustellen“, warnte Liese. Der Arzt aus dem Sauerland war selbst Berichterstatter im Gesetzgebungsverfahren der EU-Medizinprodukteverordnung, die 2017 verabschiedet wurde. Viereinhalb Jahre hatten das Europäische Parlament, die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten um einen Kompromiss gerungen. Das Ziel: Die Versorgung der Patienten sollte sicherer und die Kontrolle der Produkte und der sie zertifizierenden Benannten Stellen – in Deutschland meist TÜV oder DEKRA – ausgeweitet werden. Produkte hoher Risikoklassen wie Stents, Brust- oder Hüftimplantate müssen zudem seither ihre Wirksamkeit und Sicherheit in klinischen Tests belegen. Die Gesetzesinitiative stand damals ganz unter dem Eindruck des „PIPSkandals“, bei dem das inzwischen längst insolvente französische Unternehmen Poly Implant Prothèse für Brustimplantate billiges und möglicherweise gesundheitsschädliches Industriesilikon verwendet hatte. Europaweit waren Tausende Frauen betroffen. Doch von Anfang an hakte es bei der Umsetzung der MDR. Sie erlangte am 26. Mai 2021 Geltung, eine Übergangsfrist sollte im Mai 2024 enden. Auf Vorschlag der EU-Kommission wurde diese inzwischen verlängert: für Produkte mit höherem Risiko wie Implantate bis Dezember 2027 und für Produkte mit mittlerem oder geringerem Risiko wie Spritzen und chirurgische Instrumente bis Dezember 2028. Die Kommission führt im Wesentlichen zwei Gründe für die Verschiebung an: die begrenzten Kapazitäten der Benannten Stellen und die mangelhafte Vorbereitung vieler Hersteller auf die strengen Anforderungen. Dadurch werde die Verfügbarkeit von Medizinprodukten auf dem europäischen Markt gefährdet. Mit der Verschiebung erhielten Hersteller und Benannte Stellen mehr Zeit für die Umsetzung. Die strengeren Anforderungen an die Zertifizierung blieben jedoch unverändert, betont die Kommission. Die Fristverlängerungen milderten das Problem, stellten aber keine grundsätzliche Lösung dar, kritisiert Europaparlamentarier Liese. Neben positiven und notwendigen Regelungen, darunter unangemeldete Kontrollen bei den Herstellern, Einrichtung eines Implantat-Registers und stärkere Überwachung der Benannten Stellen, sei viel unnötige Bürokratie geschaffen worden, so Liese. Der Dokumentationsaufwand auch für Produkte mit einem relativ geringen Risiko sei enorm. Die verbliebenen Benannten Stellen litten unter extrem hohem Arbeitsanfall, weil viele Produkte, die Hersteller zuvor selbst zertifizieren konnten, jetzt in ihren Aufgabenbereich fielen. Auch die alle fünf Jahre fällige Rezertifizierung von Bestandsprodukten sorge für viel berechtigten Ärger. Die EVP-Fraktion hat deshalb die EU-Kommission aufgefordert, eine grundsätzliche Reform auf den Weg zu bringen und dazu einen 10-Punkte-Katalog vorgelegt. Unter anderem mahnt sie darin besondere Regeln für Nischenprodukte an. Auch die regelmäßige Rezertifizierung von Bestandsprodukten mit geringem Risiko solle abschafft werden. Um die Zertifizierung von Medizinprodukten zu beschleunigen, sollten zudem Kapazitäten und Effizienz der Benannten Stellen gestärkt werden. Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag hat sich diesen Forderungen angeschlossen. Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss Anfang Juni erhielt sie dafür Unterstützung von Fachleuten aus der Gesundheitswirtschaft, die vor einer Überregulierung der Medizinproduktebranche samt den damit verbundenen negativen Folgen für die Versorgungssicherheit warnten. Medizinprodukte: Versorgungslücken zeichnen sich ab Mit Einführung der EU-Medizinprodukteverordnung haben sich auch die Anforderungen an die Benannten Stellen erheblich verschärft, für die die Konformitätsbewertung ein einträgliches Geschäft ist. So müssen diese beispielsweise je nach Prüfauftrag entsprechend qualifiziertes medizinisches Fachpersonal beschäftigen. Diese „Klinischen Fachexperten“ sollten neben ihrer fachlichen Expertise auch über einschlägige Erfahrungen in der klinischen Anwendung der Produkte verfügen, deren Übereinstimmung mit den gesetzlichen Anforderungen sie prüfen. Doch eine sorgfältige Prüfung koste Zeit, heißt es aus den Reihen der Fachexperten. Das hohe Prüfaufkommen bei den Benannten Stellen – es müssen mehr Produkte von weniger zertifizierten Stellen bewertet werden – habe den Druck auf die ärztlichen Prüfexperten deutlich erhöht. Verantwortungsvolles ärztliches Handeln werde dadurch erschwert. Prüfer werden stärker kontrolliert

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