Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 21 Interview man feststellen: Zwar gibt es nun eine transparente Bewertung, die zeigt, welches Arzneimittel einen großen, kleinen oder gar keinen Zusatznutzen hat und über welches Arzneimittel wir einfach zu wenig wissen. Das schlägt sich aber nur begrenzt in der Verordnungspraxis nieder. Deshalb hat man versucht, durch die regelhafte Bereitstellung dieser Informationen im Arztinformationssystem das Verordnungsverhalten stärker zu beeinflussen. Das ist aber nur begrenzt gelungen. In der Steuerung des Verordnungsverhaltens auf der Basis des festgestellten Zusatznutzens sehe ich noch Entwicklungsbedarf. : Woran liegt das denn Ihrer Ansicht nach? Kaiser: Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Ärzte nicht grundsätzlich an der Evidenz orientieren. Die Daten im Arztinformationssystem bieten allerdings nur begrenzt Informationen für die konkrete Behandlungssituation. Derzeit betreibt das IQWiG zwei Hauptinformationskanäle: Wir erstellen wissenschaftliche Gutachten für den G-BA, die notwendigerweise sperrig sind, weil sie eine sehr ausführliche Datengrundlage und Begründung erfordern. Der zweite Kanal sind die allgemein verständlichen Gesundheitsinformationen, die sich an die Öffentlichkeit richten. Es fehlt etwas dazwischen. Für uns stellt sich zurzeit die Frage, wie wir unsere Informationen besser und verständlicher für medizinisches Fachpersonal aufbereiten können. : Und Sie denken auch an Ärztinnen und Ärzte als Adressaten von solch speziell aufbereiteten Gesundheitsinformationen? Kaiser: Ja, da haben wir einen Lernprozess vollzogen. Unsere Berichte werden in der Praxis nicht gelesen. Sie sind viel zu umfangreich. Wer kann sich im Alltag mit einem 100-Seiten starken Bericht zur Nutzenbewertung beschäftigen? Wir müssen handhabbares Material zur Verfügung stellen, aber auch den Bekanntheitsgrad des IQWiG unter den Ärzten verbessern. Wichtig wäre es, schon beim ärztlichen Nachwuchs im Laufe das Studiums sichtbar zu werden. Dieses Thema wollen wir im nächsten Jahr mit neuem Informationsmaterial angehen. Wir wollen vermitteln, wer wir sind, was wir machen und was unsere Ergebnisse sind. Wir wollen auch ganz bewusst den Austausch mit Ärztinnen und Ärzten aus der Praxis vorantreiben, Fortbildungen unterstützen, uns aber auch aus der Praxis berichten lassen. Wir wollen jetzt erst einmal den Bedarf analysieren, in welcher Form und in welcher Frequenz Ärzte speziell für sie aufbereitete Informationen als hilfreich erachten. : Sie hatten eben am Beispiel der Insulinanaloga bereits angedeutet, dass patientenrelevante Endpunkte bei klinischen Arzneimittelprüfungen aus Sicht des IQWiG einen zu geringen Stellenwert haben. Sehen Sie hier nach 13 Jahren AMNOG eine Entwicklung? Kaiser: Die sehen wir durchaus. In den Studien wird jetzt deutlich mehr Wert gelegt auf Lebensqualität und Symptomkontrolle, insbesondere in der Onkologie. Das ist eine gute Entwicklung, zu der nicht zuletzt die Patientenvertretung im G-BA beigetragen hat, indem sie beharrlich darauf hingewiesen hat, was die Patienten brauchen. Es gibt aber immer noch zu wenige Studien, die neben den für die Zulassung wichtigen Fragen zu Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit auch Fragen der Versorgung beantworten, die für die Nutzenbewertung wichtig sind. Der Nachweis des Zusatznutzens ist kein Selbstzweck. Es geht darum zu entscheiden, ob ein neues Arzneimittel eingesetzt werden soll, weil es besser ist als die Standardtherapie. Und da fehlen uns noch immer in der Hälfte der Fälle die entsprechenden Studien. : Ab 2025 soll zunächst der Nutzen neuer Krebsmedikamente und ab 2030 der Nutzen sämtlicher neuer Arzneimittel auf europäischer Ebene bewertet werden. Es wird aber jedes Land weiterhin selbst darüber befinden, wie hoch der Zusatznutzen ist und welcher Preis für ein Arzneimittel gezahlt wird. Was ist dann noch der Vorteil eines europäischen Verfahrens? Kaiser: Die Bewertung auf europäischer Ebene ist dann zu begrüßen, wenn sie dazu beiträgt, die Versorgung europaweit zu verbessern, das heißt dass Medikamente mit einem erwiesenen Zusatznutzen in allen Mitgliedstaaten zu einem dort angemessenen Preis tatsächlich verfügbar sind. Das ist so leider in der entsprechenden EU-Verordnung nicht angelegt. Die Hersteller können über eine Markteinführung weiterhin selbst entscheiden. Aber nun zur Frage der Nutzenbewertung: Bei der Versorgung mit neuen Arzneimitteln gibt es innerhalb Europas deutliche Unterschiede. In keinem anderen Land sind neue Medikamente so umfassend und schnell verfügbar wie in Deutschland. Und dann gibt es andere Länder, insbesondere in Osteuropa, wo von 160 in einem bestimmten Zeitraum neu zugelassenen Arzneimitteln nur zehn verfügbar sind. Man trifft also mit einer Nutzenbewertung in den Mitgliedstaaten auf ganz unterschiedliche Versorgungssituationen. Beispiel CAR-T-Zell-Therapie in der Onkologie: Die gibt es inzwischen in dritter Generation. Wenn diese in Deutschland einen Zusatznutzen nachweisen soll, dann muss sie das gegenüber der zweiten Generation tun. In anderen Ländern wird der Vergleichsmaßstab die Chemotherapie sein, weil dort noch nicht einmal die erste Generation der CAR-T-Zell-Therapie verfügbar ist. Diese völlig unterschiedliche Versorgungssituation in den einzelnen Ländern führt dazu, dass es selbst bei gleicher Interpretation der Studienlage zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen kann. : Warum soll es dann überhaupt ein europäisches Health Technology Assessment geben? Kaiser: Mittelfristig kann das zu einer Professionalisierung auch in den Ländern führen, die derzeit bei den Nutzenbewertungen noch nicht so gut aufgestellt sind. Das wiederum wird hoffentlich dazu beitragen, dass regionale Versorgungsunterschiede adressiert werden. Ein weiteres Ziel ist natürlich auch, den Aufwand bei der Nutzenbewertung zu verringern. Da bin ich aber eher skeptisch. Die Vorstellung, dass Pharmaunternehmen jetzt weniger umfangreiche Dossiers erstellen, die dann auf ganz Europa passen, entspricht nicht der heterogenen europäischen Situation, und deshalb wird die Aufwandsreduktion zu Beginn nur bedingt gelingen. : Nach dem aktuellen Entwurf eines Medizinforschungsgesetzes sollen künftig die zwischen Herstellern und Krankenkassen ausgehandelten Preise für neue patentgeschützte Arzneimittel geheim bleiben. Was bedeutet das für die Arzneimittelversorgung in Deutschland und Europa? Es ist wichtig, auf Endpunkte zu schauen, die die Menschen spüren und wahrnehmen.
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