Rheinisches Ärzteblatt 9/2024

22 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 Interview Kaiser: Die Pharmaindustrie argumentierte schon bei der Einführung des AMNOG im Jahr 2011, die öffentlich bekannten Preisabschläge gefährdeten den Marktzugang in Deutschland. Davon hat sich nichts bewahrheitet. Deutschland mit seinen transparenten Preisen ist beim Marktzugang Europameister. Außerdem gelten die deutschen Preise in vielen anderen Ländern, denen es wirtschaftlich schlechter geht und die deshalb auch eine schlechtere Versorgungssituation mit Arzneimitteln haben, als Referenzpreise. Das wollen die Pharmaunternehmen mit der jetzt geplanten Geheimhaltung verhindern. Wenn dort also künftig höhere Preise bezahlt werden müssen, weil der hier vereinbarte Preis nicht bekannt ist, dann verschlechtern wir damit die Versorgungssituation in den betroffenen Ländern weiter. Das ist für mich ein zutiefst antieuropäisches Vorgehen. : Die Pharmaindustrie fordert angesichts der Fortschritte in der sogenannten personalisierten Medizin flexiblere Studiendesigns. Das IQWiG setze zu sehr auf randomisierte kontrollierte Studien, RCT. Eine berechtigte Kritik? Kaiser: Manche der in diesem Zusammenhang angeführten Argumente erinnern mich an die Diskussionen über die Homöopathie. Individualisierte Therapien ließen sich nicht in RCTs untersuchen, heißt es da. Personalisierte Medizin spricht aber nicht gegen Randomisierung – wir haben dafür viele Beispiele. So gibt es kaum eine stärker personalisierte Medizin als die Stammzell- und die CAR-T-Zell-Therapie. Bei der Stammzelltherapie sucht man für eine bestimmte Person einen genau passenden Spender. Bei der CAR-T-Zell-Therapie werden den Patienten eigene Zellen entnommen, verändert und wiedergegeben. Personalisierter geht es nicht. Zu beiden Therapien gibt es randomisierte Studien, die das Therapieprinzip untersuchen und prüfen, ob die neuen Therapieansätze der Chemotherapie überlegen sind. Man sollte die Begriffe personalisierte Medizin und Präzisionsmedizin nicht als Kampfbegriffe verwenden, nach dem Motto „damit geht das nicht“; das ist das Ende jeder wissenschaftlichen Diskussion. Man sollte aber zugleich überlegen, was über neue Daten- und Forschungsinfrastrukturen oder mit Rechnerleistungen auf KI-Basis möglich ist, weil wir dann gegebenenfalls auf andere Art und Weise zu Antworten kommen können. : Kritiker merken an, dass klinische Studien heutzutage so aufwendig und komplex sind, dass sich nur noch die großen Player so etwas leisten können. Wie könnte eine Vereinfachung aussehen? Kaiser: Eine Vereinfachung für kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch für Startups, die aus Universitäten heraus neue Arzneimittel zur Marktreife bringen wollen, wäre dadurch möglich, dass man gute stehende Daten- und Forschungsinfrastrukturen vorhält und bereitstellt. Wir denken noch hauptsächlich in Silos: Man macht eine relativ aufwendige klinische Studie, baut die großen Zelte auf und danach wieder ab. Wenn man das ganze Procedere aber in bereits bestehenden Strukturen aufsetzen könnte, wäre der Aufwand wesentlich geringer. : Sie haben sich gelegentlich kritisch zur Forschung in Deutschland geäußert, gerade auch im Zuge der Coronapandemie. Welche Art Forschung vermissen sie hierzulande? Kaiser: Ich vermisse insbesondere den Willen, eine gute Forschungskultur zu etablieren. Corona ist hierfür ein gutes Beispiel. In Großbritannien gab es nach Ausbruch der Pandemie nicht nur die technische Infrastruktur, sondern auch den unbedingten Willen, die Wirksamkeit bestimmter Medikamente zur Behandlung schwer an Corona erkrankter Patienten zu erforschen – und das auf hohem Niveau. Dazu wurde in kürzester Zeit eine randomisierte Studie, die bekannte RecoveryPlattform-Studie, aufgesetzt und zwar mit wenig Zusatzaufwand in bestehenden Datenstrukturen. Diese Studie hat ganz wesentliche Ergebnisse für die Behandlung von Menschen nach COVID-19-Infektion gebracht. Hierzulande führen wir zurzeit die Diskussion um die Behandlung von Patienten, die an Long-COVID leiden. Die Betroffenen erhalten oft Off-Label-Therapien. Dabei wird aber nicht systematisch untersucht, ob die Anwendung einer OffLabel-Therapie etwas nützt, ob eine bestimmte Therapie besonders gut ist oder eine andere keinen Nutzen hat. Wir haben es verpasst, diese Behandlungen mit einer solchen Plattform-Studie zu begleiten. Entscheidend ist, dass man überhaupt wissen will, welche die beste Behandlung ist. Es ist ein ganz wesentliches Element ärztlicher Tätigkeit, selbst – je nach den eigenen Möglichkeiten – dazu beizutragen, das allgemeine Wissen zu erweitern, also Forschung als ganz normalen Bestandteil ärztlicher Tätigkeit anzusehen. Darüber hinaus brauchen wir eine Forschungsagenda, die sich am Allgemeinwohl orientiert und entsprechend Forschungsthemen setzt und finanziell fördert. Das Interview führten Thomas Gerst und Heike Korzilius Dem IQWiG ist es wichtig, ärztliche Expertise aus der Patientenversorgung in die eigene Arbeit einzubinden. Das betonte Institutsleiter Dr. Thomas Kaiser im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Interessierte können sich auf unterschiedliche Art und Weise an der Arbeit des Instituts beteiligen (https://www.iqwig.de/ sich-einbringen/fachwissen-einbringen/): Ärztinnen und Ärzte aus Klinik und Praxis können sich generell als Ansprechpartner für Fachfragen in der Sachverständigen-Datenbank des IQWiG registrieren. Sie werden dann im Einzelfall von den Mitarbeitern des Instituts im Rahmen von Dossierbewertungen, der Begutachtung von neuen Inhalten auf gesundheitsinformation.de sowie Potenzialbewertungen von neuen nicht medikamentösen Verfahren und Nutzenbewertungen von Hochrisiko-Medizinprodukten zu Indikationen, Therapien und zum Versorgungsalltag befragt. Ärzte können sich initiativ mit Stellungnahmen zu vorläufigen Nutzen- bewertungen („Vorberichten“) be- teiligen – mit klinischer oder auch niedergelassener Perspektive. Ärzte können beim ThemenCheck Medizin HTA-Berichte vorschlagen, die in der Versorgung fehlen: https://www.iqwig.de/sich-einbringen/ themencheck-medizin/ Ärztliche Erfahrung zählt

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