Rheinisches Ärzteblatt 9/2024

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 27 Forum In einem Fallbeispiel wird die Problematik erläutert, die aus dem Wunsch einer Patientin ohne lebenslimitierende Erkrankung nach freiwilligem Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) und aus der Verzahnung von Ethikberatung und Palliativversorgung entstanden ist. Fallbericht Die 87-jährige Frau hat sich über einen Hospizverein an das regionale Netzwerk der Hospiz- und Palliativversorgung gewandt, das auch Träger des ambulanten Ethikkomitees ist. Sie wohnt in einem Mehrgenerationenhaus mit enger Nachbarschaftsgemeinschaft. Eine Nachbarin war früher in einer Pflegeeinrichtung tätig und hat ihr angeraten, das ambulante Ethikkomitee zu kontaktieren. Ein Neffe als einziger näherer Verwandter ist vorsorgebevollmächtigt. Die Hausärztin ist urlaubsbedingt nicht erreichbar, die hausärztliche Vertretung kennt die Patientin nicht. Sie ist im Rollstuhl mobil, ein Pflegegrad 2 liegt vor, ein Pflegedienst kommt regelmäßig. Bei einem ersten Besuch einer Mitarbeiterin des ambulanten Ethikkomitees zu einem Informationsgespräch schildert die Frau, dass sie sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema „Sterbefasten“ beschäftigt habe, vor allem nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin vor fünf Jahren. Das hohe Alter mit zunehmenden Einschränkungen in der Kommunikation belaste sie. Sie könne nicht mehr hören, sehen, fokussiert denken oder schreiben. Sie schilderte einen Gedächtnisverlust, bezeichnete dies selbst als beginnende Demenz. Eine Depression sei noch nie diagnostiziert worden. Im Gespräch mit der Patientin wird die Schwerhörigkeit deutlich und eine allgemeine Verlangsamung im Denken. Es liegt keine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Vor vier Wochen wurde sie nach dem Bruch eines Lendenwirbelkörpers stationär behandelt. Dabei sei ihr Hörgerät abhandengekommen. Der dabei erlebte Hörverlust habe die Gedanken zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) wieder in Gang gesetzt. Sie habe bereits über den Neffen Kontakt zu einem Sterbehilfeverein aufgenommen. Sie habe erfahren, dass die Wartefrist sechs Monate betrage, was die Patientin angemessen findet. Es sei alles in ihrem Leben geschehen, was wichtig gewesen ist, und sie habe alles im Leben erreicht. Die Patientin gibt an, dass die Umsetzung des Sterbewunsches für sie nicht dringend sei. Sie wolle auch nicht einfach sterben, sondern die Zeit des Sterbens intensiv miterleben. Sie erlebe noch so viel Energie um sich herum. Sie sagt, dass insgesamt eine spielerische, philosophische Beschäftigung mit dem Sterben und dem FVET bestehe. Im Beratungsgespräch wird deutlich, dass sie zunächst einmal abwarten möchte, bis sie mit der Hausärztin, die sie schon seit vielen Jahren kennt, nach deren Rückkehr aus dem Urlaub über das Thema FVET sprechen kann. Zunächst soll ein Notfallruf installiert werden und eine intensive Alltagesbetreuung mit der Nachbarin organisiert werden. Eine Woche später wird über die Nachbarin um eine erneute Ethikberatung gebeten. Der ursprünglich geplante Gesprächstermin nach dem Wochenende müsse allerdings notfallmäßig vorverlegt werden, weil die Patientin bereits vor mehreren Tagen mit dem FVET begonnen habe und die Versorgung bei möglichen Komplikationen nun nicht gesichert sei. Die ethische Beratung erfolgt deshalb am gleichen Freitag durch den Vorsitzenden des ambulanten Ethikkomitees in der Wohnung der Patientin. Die Nachbarin und eine Bekannte, die ebenfalls früher in der Wohnanlage gewohnt hat, sind anwesend, der Neffe kann zwischenzeitlich telefonisch dazugeschaltet werden. Die Patientin bestätigt die Angaben aus dem ersten Gespräch, insbesondere den Sterbewunsch und dass sie keine Angst vor dem Tod habe, sondern eher neugierig sei auf das, was danach komme. Nahtodberichte hätten ihr viel Hoffnung gegeben. Sie habe seit einigen Tagen schon nichts mehr gegessen und seit gestern auch nichts mehr getrunken. Sie stellt klar, dass sie keinesfalls wiederbelebt werden wolle. Eine stationäre Behandlung will sie aber nicht ausschließen, aber dann nur auf einer PalliativEin Fallbericht aus der ambulanten Ethikberatung zum Freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken von Lukas Radbruch, Andrea von Schmude, Martina Kern, Frank Peusquens, Raya Egri, Kristina Muscheid, Séverine M. Surges Klinische Ethikberatung ist in Deutschland bislang vor allem in Krankenhäusern etabliert. Die Struktur wird aber in einer zunehmenden Zahl von Modellversuchen und Projekten auch in die ambulante Versorgung eingeführt. Ambulante Ethikberatung ist aber noch nicht Teil der Regelversorgung und wird von den Kostenträgern nicht finanziert. Die ambulante Ethikberatung beruht deshalb meist auf dem ehrenamtlichen Engagement der Mitarbeitenden. In der Region Bonn und Umgebung wird eine ambulante Ethikberatung über die Netzwerke Hospiz- und Palliativversorgung Bonn/Rhein-Sieg angeboten. Häufig geht es um Anfragen zum Umgang mit Sterbewünschen, zunehmend auch von Patienten, die nicht lebenslimitierend erkrankt sind. Spezifische Probleme und Dilemmata treten auf, wenn etwa die Motivation der Person mit Sterbewunsch für Angehörige, Behandler oder Ethikberater nicht nachvollziehbar ist. Wir erleben, dass in einem größeren Maß als bei anderen Anfragen die Gefahr besteht, dass die eigenen Werte und Präferenzen als genereller Maßstab missbraucht werden. Dies kann dazu führen, dass auf Lebenserhalt um jeden Preis gedrängt wird, manchmal aber auch auf die zu schnelle und unkritische Unterstützung eines Sterbewunsches. Ein empathisches, aber auch kritisches und selbstkritisches Eingehen auf die Gedankenwelt des betroffenen Menschen als Grundlage der Entscheidungsfindung ist dann nicht möglich. Dann kommt es zu hohem Handlungsdruck und Kommunikationsstörungen bei allen Beteiligten – sowohl bei den Patienten und ihrem Umfeld, im Behandlungsteam wie auch bei den Ethikberatern. Ethikberatung in der Palliativversorgung: Konflikte und was man daraus lernen kann

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