Rheinisches Ärzteblatt 9/2024

28 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 9 / 2024 Eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung muss die Freiverantwortlichkeit aber nicht unbedingt ausschließen. Der Deutsche Ethikrat stellte fest: „Wenn eine psychische Erkrankung diese Fähigkeit [der Selbstbestimmungsfähigkeit] nicht so weit einschränkt, dass eine realitätsbezogene, am eigenen Selbstbild ausgerichtete Abwägung des Für und Widers nicht mehr möglich ist, schließt sie die Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung nicht aus.“ Und weiter: „Eine in hinreichendem Maße selbstbestimmte und deshalb moralisch vor sich selbst sowie auch den Anderen, die von der Entscheidung unausweichlich (mit-)betroffen sind, zu verantwortende Entscheidung kann als freiverantwortlich bezeichnet werden.“ (www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/ Stellungnahmen/deutsch/stellungnahmesuizid.pdf). Die Bundesärztekammer sieht in ihren Hinweisen zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen eine Einschränkung der Freiverantwortlichkeit dann gegeben, „wenn es an einer tieferen Reflexion über den eigenen Todeswunsch fehlt oder der Entschluss nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist.“ (www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=220766). Im geschilderten Fall wurde aber deutlich, dass die Patientin schon lange über ihr Lebensende und die Option des FVET nachgedacht hatte, dies auch in der Patientenverfügung entsprechend dokumentiert und mit ihrem Vorsorgebevollmächtigten besprochen hatte. In der Ethikberatung wurde deshalb kein ausreichender Grund gesehen für eine Einschränkung der Freiverantwortlichkeit beim Entschluss zum FVET. Hier scheint auch eine grundsätzliche Überlegung zum Umgang mit FVET notwendig. Bei einem Suizidversuch kann eine Krisenintervention zur Suizidprävention notwendig sein, bei der der Zugang zu Suizidmitteln verwehrt wird – bis hin zu einer zwangsweisen Unterbringung nach dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) oder einer Zwangsmedikation wegen Eigengefährdung bei psychischen Erkrankungen. Diese Maßnahmen sind aber immer zeitlich befristet anzuwenden und meist nur über wenige Tage erforderlich. Im Gegensatz dazu wäre als Maßnahme gegen FVET eine Zwangsernährung erforderlich, die bei entsprechender Dauerhaftigkeit des Entschlusses zu FVET wahrscheinlich über die verbleibende Lebenszeit fortgeführt werden müsste. Damit wäre eine sehr weitreichende Wiederbelebung oder intensivmedizinische Maßnahmen zu verzichten. Nach dem Wochenende wird beim ersten Besuch einer Pflegekraft des SAPV-Teams aber mitgeteilt, dass die Patientin zunehmend verwirrt sei. Zudem sei sie am Wochenende beim Toilettengang gestürzt und infolgedessen nun bettlägerig. Die Versorgung durch Neffen und Nachbarn scheint für die folgenden Tage und Nächte nicht ausreichend gesichert. Deshalb wird die Aufnahme auf eine Palliativstation veranlasst. Das Behandlungsteam auf der Palliativstation ist unsicher, mit welchem Therapieziel die Aufnahme der Patientin erfolgt ist. Sie ist unruhig und reagiert mittlerweile nicht mehr auf Ansprache. Im Team wird die Indikation zur stationären Behandlung bei einer Patientin ohne lebenslimitierende Erkrankung in Frage gestellt, andere Teammitglieder befürworten aber eine palliative Sedierung bei vermutetem existentiellem Leid. Die Patientin erhält eine Medikation zur Symptomkontrolle mit Haloperidol und Lorazepam bei Unruhe und Hydromorphon bei Rücken- und Liegeschmerzen. Sie verstirbt nach vier Tagen unter guter Symptomkontrolle auf der Palliativstation. Bewertung und Diskussion In den Nachbesprechungen mit den Behandlungsteams wurde eine Reihe von Problemen im Verlauf sichtbar. In dem geschilderten Fallbeispiel konnte die Frage der Freiverantwortlichkeit nicht grundlegend beantwortet werden. Die Patientin schien in mehreren Kontakten nicht depressiv zu sein, und es fanden sich keine Hinweise auf psychiatrische Erkrankungen. Andererseits wurden Gedächtnisstörungen und eine Verlangsamung des Denkens beschrieben. Eine neurologische oder psychiatrische Untersuchung fand schon aufgrund des von der Patientin vorgegebenen Zeitdrucks nicht statt. Für den Ausschluss einer Depression wird von psychiatrischer Seite ein strukturiertes klinisches Interview (SKID) gefordert. Mit SKID wurden bei Tumorpatienten doppelt so viele Depressionen diagnostiziert im Vergleich zu den Einschätzungen durch Ärzte (Singer S, et al.: Identifying tumor patients‘ depression. Support Care Cancer. 2011; 19: 1697–703). Ein SKID wurde bei der Patientin nicht durchgeführt, wäre allerdings bei der dafür erforderlichen Dauer von circa 100 Minuten wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen. station oder in einem Hospiz. Der Neffe bestätigt, dass seine Tante sich schon lange mit Sterbefasten beschäftigt habe. Die vorliegende Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht (für den Neffen) bestätigen diese Aussagen. Die Frau wirkt im Gespräch nicht depressiv, und es sind keine deutlichen Anzeichen einer psychischen oder psychiatrischen Störung zu erkennen. Ihre Aussagen sind sehr deutlich, sie kann differenziert denken und ihre Präferenzen und Prioritäten deutlich schildern. Andererseits scheint das Denken verlangsamt und das Gedächtnis beeinträchtigt, weil sie nach einer kurzen Gesprächspause den Ethikberater nicht wiedererkennt. Die Nachbarin berichtet von einem Notruf beim Rettungsdienst vor wenigen Tagen. Die Rettungssanitäter hätten ihr gesagt, dass die Patientin wegen des FVET dringend zur stationären psychiatrischen Behandlung eingewiesen werden müsse, sonst würde auch sie selbst Gefahr laufen, wegen unterlassener Hilfeleistung juristisch belangt zu werden. Dies habe sie sehr verunsichert und verängstigt. Als Konsens wird im Beratungsgespräch formuliert, dass die Patientin sich freiverantwortlich für den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken entschieden habe. Eine Zwangsbehandlung gegen ihren Willen oder gar eine Zwangsernährung seien keinesfalls zu rechtfertigen. Eine Begleitung durch die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) sei sinnvoll, um mögliche Beschwerden wie Verwirrtheit, Angst oder Schmerzen, die im weiteren Verlauf beim FVET auftreten können, zu behandeln. Unterstützung durch einen ambulanten Hospizdienst sei angezeigt. Da der Ethikberater gleichzeitig als Arzt in der SAPV tätig ist, wird als erste Maßnahme für die Versorgung am Wochenende ein Sprühfläschchen zur Mundpflege und ein Rezept mit Lorazepam überlassen, falls es am Wochenende zu Angst oder Unruhe kommen sollte. Die Hausärztin ist noch im Urlaub, die Patientin wünscht mittlerweile aber einen Hausarztwechsel. Die Verordnung der SAPV soll deshalb nach dem Wochenende über eine andere Hausarztpraxis erfolgen. Eine ärztliche Anordnung für den Notfall (ÄNO-Bogen) wird ausgefüllt und vom Ethikberater unterschrieben – zur Absicherung für die Nachbarn und den vorsorgebevollmächtigten Neffen und gegebenenfalls als Anordnung für den Rettungsdienst, auf Forum

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