Rheinisches Ärzteblatt 10/2024

22 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 10 / 2024 Spezial der Gerontopsychiatrie des LVR Klinikums in Düsseldorf wird in diesen Zahlen auch der demografische Wandel in unserer Gesellschaft mit einem zunehmenden Anteil multimorbider Menschen deutlich spürbar. „Die Kombination aus chronischen Schmerzen und schweren körperlichen Beeinträchtigungen nimmt vielen den Lebensmut. Das sind unter anderem erhebliche Risikofaktoren für einen Suizidwunsch“, erläutert er im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. „Ich möchte nicht mehr leben“ In weiten Teilen der Gesellschaft ist der Suizid immer noch ein absolutes Tabuthema. Das Ansprechen der Thematik sei eines der stärksten Erkennungsmerkmale, auf das Angehörige und Freunde achten sollten, betont Supprian. „Wenn ein Mensch nicht mehr leben möchte, wird er sich mitteilen. Das beobachten wir besonders bei älteren Menschen. Sie erwähnen es ganz offen, aber es wird nicht vom Umfeld angenommen.“ Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist in seiner täglichen Arbeit mit älteren Menschen konfrontiert, die einen Suizidversuch überlebt haben. Pro Monat seien zwei bis drei Fälle keine Seltenheit. Supprian rät Angehörigen und Freunden, beim ersten Verdacht bereits mutig zu sein und die möglicherweise Betroffenen anzusprechen. Generell beobachte man bei Menschen mit Suizidabsicht eine intensive Beschäftigung mit dem Tod – sei es das eigene Testament, das Heraussuchen von Informationen zur Sterbehilfe oder das Verschenken von Vermögenswerten. „Besonders wenn all dies aus dem Nichts heraus passiert, sollte man hellhörig werden. Das ist sehr häufig das Aufräumen vor dem eigenen Tod“, so Supprian Den meisten Suizidhandlungen von älteren Menschen liegen ihm zufolge Depressionen zugrunde. Als Auslöser verweist er insbesondere auf die Vereinsamung der geriatrischen Patientinnen und Patienten. „Immer mehr ältere Menschen leben alleine, sind nach dem Tod des Partners und auch des Freundeskreises plötzlich stark isoliert. Das erklärt die ansteigenden Suizidzahlen sehr gut.“ Hinzu kämen mögliche wirtschaftliche Schwierigkeiten im Alter, der Todeswunsch entstehe dann aus der Notlage heraus – beispielsweise bei Wohnungsverlust oder Schulden. Häufig resultiere der Suizidwunsch aber aus weniger dramatischen Konstellationen: „Viele Menschen haben Angst vor Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit. Man möchte anderen nicht zur Last fallen.“ Der Psychiater sieht dabei ganz klar auch die Gesellschaft im Zugzwang. „Trotz der Tatsache, dass wir in einem sehr privilegierten Land leben, erfährt alle Mühe und Arbeit in der Pflege keine Wertschätzung. Eine Konsequenz daraus ist, dass Menschen, die dringend einen Pflegeplatz bräuchten, sich davor scheuen, in diese Form der Betreuung zu gehen, und einsam vor sich hinleben“, betont Supprian. Man dürfe in all der Diskussion um Verbesserungen und Umgestaltung nicht vergessen, wie erheblich sich die Lebensqualität von älteren Menschen steigere, wenn sie mit Gleichgesinnten zusammenlebten und Menschen um sich haben, die sich kümmerten. Hausarztpraxis als Ankerpunkt Supprian sieht die Hausärztinnen und Hausärzte in einer zentralen Rolle bei der Suizidprävention. „Psychologische Autopsiestudien belegen, dass Menschen in der Woche vor einem Suizidversuch oftmals Kontakt mit ihrem Hausarzt haben. Auch hier gibt es den Drang sich mitzuteilen – der letzte Besuch sozusagen. Für sehr viele ältere Menschen sind Hausärzte eine enorm wichtige Bezugsperson.“ Hausärzte könnten als erste Ansprechpartner suizidgefährdeter Patientinnen und Patienten bereits frühzeitig depressive Störungen erkennen und Betroffene zur Weiterbehandlung vermitteln; denn sie interagierten eigentlich immer in einem großen Netzwerk mit anderen Fachrichtungen vor Ort, sagt Supprian. Vor allem aber seien es Hausärztinnen und -ärzte, die um den Gesundheitszustand ihrer Patienten genau Bescheid wissen. Gerade die Diagnose einer Krankheit mit schlechter Prognose sei als Risikofaktor zu deuten, den man in Praxen und Kliniken ernst nehme. „Hinzu kommen die Patienten mit chronischen Schmerzen, die sich bei ihren Hausärzten über eine sehr eingeschränkte Lebensqualität beschweren. Dann darf und soll ein Hausarzt auch nach Suizidgedanken fragen.“ Vereinsamung entgegenwirken Für Supprian geht es bei der Suizidprävention primär darum, der Vereinsamung entgegenzuwirken. Dabei spielten Seniorenbegegnungsstätten auf regionaler Ebene eine wichtige Rolle. „Seniorenräte in allen Städten und Kommunen bemühen sich sehr, Angebote zu erstellen und Menschen zu vernetzen. Man muss nicht einsam sein, aber man muss offen sein für diese Veränderung. Für viele ältere Menschen eröffnet sich damit ein ganz neuer Lebensabschnitt.“ Man wisse, dass Menschen, die sozial aktiv sind, eine höhere Lebensqualität und ein niedrigeres Suizidrisiko haben. Vereinsmitgliedschaften, soziales Engagement, Altruismus und Gesundheitsvorsorge seien daher essenziell. Wichtig sei aber auch, dass eine unterschriebene und durchdachte Vorsorgevollmacht vorliege, sodass im Notfall eine weitere Person berechtigt ist, zu handeln und zu entscheiden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach präsentierte jüngst eine Nationale Suizidpräventionsstrategie. Die Pläne sehen unter anderem die Einrichtung einer Koordinierungsstelle für Suizidprävention und ein Suizidregister vor. Supprian sieht Potenzial in den Bemühungen: „Ein Suizidregister könnte die Suizidforschung unterstützen, allerdings wäre zusätzlich eine systematische und anonyme Erfassung von Suizidversuchen wünschenswert, über deren Häufigkeit und Folgen bislang keine verlässlichen Daten vorliegen“. Es müsse der Gesellschaft darum gehen, ein würdevolles hochbetagtes Leben zu skizzieren und zu verinnerlichen, dass das Alter durchaus lebenswert sei.

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