Rheinisches Ärzteblatt 10/2024

Mein Beruf Rheinisches Ärzteblatt / Heft 10 / 2024 55 Dr. Sonja Holten, Psychiaterin und Suchtmedizinerin „Sucht ist kein gesellschaftliches Randproblem“ Job, Beruf, Berufung? – An dieser Stelle berichten junge Ärztinnen und Ärzte über ihren Weg in den Beruf, darüber, was sie antreibt und warum sie – trotz mancher Widrigkeiten – gerne Ärztinnen und Ärzte sind. : Frau Dr. Holten, wie sind Sie zur Suchtmedizin gekommen? Holten: Mein Weg in die Suchtmedizin war eher zufällig: Während meines Medizinstudiums an der Charité in Berlin habe ich eine Famulatur in einer Hausarztpraxis absolviert, in der auch Heroin-Patienten substituiert wurden. Zudem habe ich kurz nach dem Physikum mit meiner suchtmedizinischen Doktorarbeit angefangen. Geprägt hat mich auch ein Praktikum in der Justizvollzugsanstalt Moabit, wo Substitutionsbehandlungen mit Methadon zum Alltag gehörten. Ich habe die Arbeit mit Suchtkranken von Anfang an als sehr sinnstiftend empfunden, denn Sucht ist kein Randproblem in der Gesellschaft und von den Erkrankten lässt sich nur ein kleiner Bruchteil professionell behandeln. Die Substitutionstherapie ist beispielsweise ein wirksames Mittel, um Suchtkranke in die Behandlung zu holen und ein Stück Lebensqualität zurückzugeben, denn unbehandelt stehen die Patienten unter einem hohen Leidensdruck, viele verelenden und versterben an ihrer Suchterkrankung oder nehmen sich das Leben. : Wie erleben Sie den Umgang mit Ihren substituierten Patientinnen und Patienten? Holten: Meine Patienten sind in der Regel schwer chronisch krank. Fast 90 Prozent sind Männer, viele von ihnen haben deutliche Brüche in ihrer Biografie: Sie stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen und haben dort früh Gewalterfahrungen gemacht. Nur ein Bruchteil verfügt über einen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Ausbildung. Viele Suchterkrankte haben vielschichtige Probleme, Obdachlosigkeit spielt zum Beispiel eine große Rolle. Die Arbeit mit Suchterkrankten erfordert eine gewisse Frustrationstoleranz, denn nicht wenige Patienten werden nach Entzügen wieder rückfällig. Umso mehr freue ich mich dann auch über kleine Fortschritte: Ein Erfolg ist es beispielsweise, wenn ein Patient pünktlich seine Termine einhält und täglich zur Substitution kommt. Andere Patienten leben hin die tödlichste Einzeldroge. Es zeichnet sich ab, dass Straßenheroin zunehmend mit Fentanyl gestreckt wird. Für Konsumenten kann dies leicht zu Überdosierungen führen und lebensbedrohlich sein. Daher versuche ich, bei meinen Heroinpatienten ein Bewusstsein für diese Gefahr zu schaffen. Während der Coronapandemie haben viele junge Patienten mit dem Konsum neuroaktiver Substanzen angefangen. Neu ist für mich dabei der Konsum von freiverkäuflichem Lachgas als Droge. Rapide gestiegen ist außerdem die Zahl der Kokainkonsumenten. Derzeit beobachten wir eine regelrechte Kokainschwemme in Deutschland. Insbesondere das aus Kokain hergestellte Crack ist auch in Nordrhein auf dem Vormarsch und stellt uns Ärztinnen und Ärzte vor sehr große Herausforderungen, denn diese Patienten sind besonders schwer in Behandlung zu bekommen und es gibt zum Beispiel kein Substitutionsprogramm. Cannabis ist weiterhin das nach Alkohol und Nikotin am häufigsten konsumierte Suchtmittel. Was uns aktuell umtreibt, ist die Cannabis-Teillegalisierung. Noch ist diese aber nicht lange genug in Kraft, um belastbare Aussagen zu einem veränderten Konsumverhalten zu treffen. : Was muss in der suchtmedizinischen Versorgung Ihrer Meinung nach verbessert werden? Holten: Ich finde es schade, dass in Deutschland nur wenige Ärztinnen und Ärzte substituieren, sodass bereits eine große Versorgungslücke für Suchtkranke entstanden ist. Insbesondere auf dem Land gibt es kaum Ärztinnen und Ärzte, die substituieren. Doch auch in den Städten droht ein Mangel. Dazu kommt, dass auch unter uns Ärztinnen und Ärzten noch viele Vorurteile gegenüber psychisch Kranken und Suchtkranken herrschen. Viele glauben, dass Suchtkranke charakterschwach und nicht behandelbar sind – dies entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Ich denke, dass es helfen könnte, die Suchtmedizin in der Lehre zu verankern, sodass angehende Ärzte ein stärkeres Verständnis für Suchterkrankte aufbauen. Fast jeder praktizierende Arzt hat Berührungspunkte mit Suchtkranken. Mehr Wissen über Sucht ist nicht von Nachteil, insbesondere da auch Ärztinnen und Ärzte selbst unter anderem durch die hohe Arbeitsbelastung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Suchterkrankung haben. Das Interview führte Marc Strohm Foto: Mikael Väisänen Dr. Sonja Holten studierte Medizin an der Berliner Charité, in den USA, auf Malta und in der Schweiz, kehrte aber für die Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in ihre nordrheinwestfälische Heimat zurück. Seit 2019 arbeitet die 34-Jährige als Psychiaterin mit Zusatzbezeichnung Suchtmedizinische Grundversorgung am Zentrum für Seelische Gesundheit der Alexianer in Aachen. bereits seit mehreren Jahren abstinent, sind berufstätig oder haben eine Familie gegründet – solche Entwicklungen freuen mich besonders. : Zeichnen sich unter den Drogenkonsumenten Trends ab? Holten: Aktuell beobachte ich gleich mehrere besorgniserregende Entwicklungen: Die Todeszahlen von Suchtkranken in Deutschland steigen und Heroin ist weiter­ Ich würde mir wünschen, dass hierzulande mehr Ärzte substituieren.

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