26 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 11 / 2023 die volle Sehkraft auf dem rechten Auge erhalten werden können. Es bestehe ein Dauerschaden. Gutachterliche Bewertung des Erstsachverständigen Nach der gutachterlichen Bewertung des Erstsachverständigen hatte der erstbehandelnde Augenarzt bereits im Jahr 2014 eine seitendifferente Fehlsichtigkeit des damals zweijährigen Kindes festgestellt und entsprechende Maßnahmen getroffen. In diesem Alter des Kindes sei die Funktionsdiagnostik limitiert. Der nachbehandelnde Augenarzt habe in dem Behandlungszeitraum 2017–2018 die sich entwickelnde Amblyopie am rechten Auge erkannt und behandelt. Das regelmäßige Tragen der Brille und die Kontrolluntersuchungen im Abstand von zwei bis drei Monaten seien aber nicht eingehalten worden. Es sei von einer zeitlichen Verzögerung der adäquaten Amblyopie-Therapie auszugehen, die auf die Sehschärfenentwicklung jedoch nur begrenzt Einfluss gehabt habe. Ab Februar 2019 sei das Kind nach Überweisung des Praxisnachfolgers in einer Augenklinik behandelt worden. Dort habe sich das Sehvermögen im Jahr 2019 wesentlich gebessert, und eine visuell relevante Amblyopie habe nicht mehr vorgelegen. Nach gutachterlicher Bewertung des Erstsachverständigen habe kein Behandlungsfehler vorgelegen. Ein bleibender Gesundheitsschaden bestehe nicht. Die Eltern des Kindes baten daraufhin um ein abschließendes Gutachten der Gutachterkommission. Zur Begründung führten sie aus, dass die Termine immer gemäß den ärztlichen Vorgaben erfolgt seien. Das Kind habe die Brille regelmäßig getragen. Mit ihnen sei die Vorsprache in einer Sehschule nicht besprochen worden. Die Gutachterkommission hat nach vorläufiger Bewertung der Sachlage den Augenarzt darauf hingewiesen, dass die Dokumentation keine Hinweise auf die (Zwischen-)Anamnesen enthalte, im Weiteren sei nicht dokumentiert, inwieweit die stringente Behandlungsstrategie mit den Eltern besprochen worden sei. Auch sei nicht erkennbar, dass spätestens im Dezember 2017 von ihm eine Okklusionstherapie in Betracht gezogen worden sei. Erwiderungen Der Augenarzt erwiderte, dass die vom Gutachter beanstandeten Anamnesen im Computersystem als Dauerdiagnosen hinterlegt seien. Das regelmäßige Tragen der Brille sei immer mit den Eltern besprochen worden. Die Sehschärfenkontrolle sei alle zwei bis drei Monate erfolgt und besprochen worden. Ein Langtest sei versucht worden. Jedenfalls habe er ein manifestes Schielen ausschließen können. Nach der Wiedervorstellung nach erst einem halben Jahr habe er die Vorstellung in einer Sehschule besprochen. Erst ein dreiviertel Jahr später sei die nächste Vorstellung erfolgt. Der Sehschultermin habe dann erst Anfang 2019 erfolgen können. Den Vorwurf eines Behandlungsfehlers weise er zurück. Abschließende Begutachtung Die Gutachterkommission kam dagegen in ihrem abschließenden Gutachten nach vollständiger erneuter Überprüfung der Behandlungsunterlagen zu dem Ergebnis, dass Behandlungsfehler festzustellen seien. Nach der Patientenakte hatte es Behandlungen Mitte Juni und Mitte Dezember 2017 sowie Anfang September 2018 gegeben. Ein Grund für die erstmalige Vorstellung des zu diesem Zeitpunkt vier Jahre und zehn Monate alten Kindes ist nicht dokumentiert. Der Organbefund wird mit klaren Medien und anliegender Netzhaut als regelrecht beschrieben, ein manifestes Schielen ausgeschlossen (Cover-Test). Eine Funktionsdiagnostik gelang nur orientierend: binokular wurden Kinderbilder entsprechend einem Visus von 0,8 erkannt, zur monokularen Prüfung ist niedergelegt, dass das Kind mit dem rechten Auge nichts sehe, wenn das linke Auge abgedeckt sei. Angaben zur Stereofunktion (Lang-Test, altersgerecht) sind nicht dokumentiert. Die objektive Refraktionsbestimmung in Zykloplegie (C-Skiaskopie) deckte eine seitendifferente Fehlsichtigkeit auf (Hyperopie beidseits mit Anisometropie zu Ungunsten des rechten Auges und Astigmatismus). Der Augenarzt erkannte den Handlungsbedarf zur Prophylaxe und/oder Therapie einer drohenden oder bereits bestehenden Amblyopie infolge hoher asymmetrischer Fehlsichtigkeit und verordnete eine entsprechende Brille zum Refraktionsausgleich, Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission, Folge 140 Für die Entwicklung eines beidseitigen gleichwertigen Sehvermögens ist die zentralnervöse visuelle Verarbeitung in den ersten sechs Lebensjahren entscheidend. Eine Störung dieser Phase, beispielsweise durch asymmetrische Fehlsichtigkeit mit relativer Verschlechterung des Seheindrucks eines Auges („Deprivation“ dieses Auges), führt im Ergebnis zur Amblyopie des Auges. Bei rechtzeitig einsetzender und konsequent durchgeführter Therapie besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, die volle Sehschärfe zu erreichen. von Cornelia Röckl-Müller, Dieter Friedburg, Paul-Heinz Gröne und Beate Weber Die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein hatte sich mit dem Fall eines bei Antragstellung neunjährigen Mädchens zu befassen. Dessen Eltern beklagten zu diesem Zeitpunkt die Diagnostik und Behandlung einer Sehstörung bei ihrem Kind. Dies habe zu einer dauerhaft eingeschränkten Sehfähigkeit eines Auges geführt. Bei sachgerechter Therapie wäre dies vermeidbar gewesen. Die Eltern trugen vor, der zunächst behandelnde Augenarzt hätte im Verlauf der Behandlungen von März 2013 bis Herbst 2015 bereits im Jahr 2014 eine Okklusionstherapie bei Anisometropie einleiten müssen. Ein diesbezügliches Verfahren gegen diesen Augenarzt führte die Gutachterkommission gemäß § 7 Abs. 3 ihrer Verfahrensordnung (Nichtbefassung, wenn der behauptete Behandlungsfehler bei Antragstellung länger als fünf Jahre zurückliegt) nicht durch. In der Folge nahmen die Eltern einen weiteren Augenarzt in Anspruch; dieser habe das Kind in den Jahren 2017 und 2018 dreimal behandelt. Nach Ansicht der Eltern habe es bereits vor dem Jahr 2019 Hinweise auf eine Amblyopie mit der Notwendigkeit der Einleitung einer Okklusionstherapie gegeben. Bei zeitnaher Therapie auch durch den nachbehandelnden Arzt hätte Fehlerhafte Behandlung einer Amblyopie
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