Rheinisches Ärzteblatt / Heft 11 / 2024 3 Heft 11 • November 2024 Entbürokratisierung jetzt! Der Bundestag hat Ende September den Entwurf der Bundesregierung für ein Bürokratieentlastungsgesetz IV angenommen. Regelungen zum Gesundheitswesen sind darin nicht enthalten, da Gesundheitsminister Lauterbach ein eigenes Bürokratieentlastungsgesetz für den Herbst angekündigt hat. Ursprünglich sollte sein Entwurf schon vor Weihnachten 2023 vorgelegt werden – ein Jahr später jedoch warten wir immer noch auf das versprochene Gesetz. Dabei würde wirkliche Entbürokratisierung dringend benötigte Arzt-Zeit für die Patientenversorgung freisetzen und zu einer tatsächlichen Entlastung im Arbeitsalltag für unsere Kolleginnen und Kollegen in Kliniken und Praxen führen. Sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte verbringen im Krankenhaus täglich durchschnittlich drei Stunden mit Dokumentationsarbeiten, die häufig keinen Nutzen für die Behandlung der Patientinnen und Patienten haben. Reduzierte sich diese bürokratische Arbeit um nur eine Stunde pro Tag, würde dies rechnerisch rund 21.600 Vollkräfte im ärztlichen und etwa 47.000 Vollkräfte im Pflegedienst freisetzen, so eine Berechnung der Deutschen Krankenhausgesellschaft. In der ambulanten Versorgung sieht es nicht besser aus. Aktuell verbringt jede Praxis laut KBV mehr als einen Tag pro Woche mit bürokratischen Aufgaben. Neben dem Zeitgewinn für die Patientenbehandlung würde eine Entbürokratisierung auch nachweislich zu einer höheren Berufszufriedenheit führen, haben wir doch den Arztberuf gewählt, um Patienten zu behandeln und nicht um Formulare auszufüllen. Selbstverständlich gehört zu einer Behandlung eine gute Dokumentation von Anamnese, Diagnostik und Therapie, da verwehrt sich niemand. Aber mit unserem jetzigen überbürokratischen System kommen wir an unsere Grenzen, und das bedeutet letztendlich, dass wir unsere Patientinnen und Patienten nicht mehr so versorgen können, wie wir es wünschen und wollen. Wenn Kollegen einem Kind einen neuen Rollstuhl verordnen, weil es gewachsen ist, macht es fassungslos, wenn dazu mehrfache Nachfragen vom MDK kommen. Ich kenne keine Kollegen, die für ein Kind einen Rollstuhl beantragen, wenn es diesen nicht braucht. Ständige MDK-Nachfragen belasten nicht nur unser Zeitbudget, sondern auch unsere Patientinnen und Patienten, die häufig nur über langwierige Einspruchsverfahren zu ihren benötigten Heil- und Hilfsmitteln kommen. Dass das kein Zustand ist, weiß auch der Gesetzgeber und hat wenigstens im angekündigten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz einen Passus zur Beschleunigung von Bewilligungsverfahren eingefügt. Bei Anträgen von Kindern oder Erwachsenen mit geistiger Behinderung oder schwerer Mehrfachbehinderung wird das Prüfprogramm der Krankenkassen für Hilfsmittelversorgungen eingeschränkt, sofern der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin des SPZ oder des MZEB die beantragte Versorgung empfiehlt. Dieser sinnvolle Ansatz greift jedoch viel zu kurz, denn die überwiegende Verschreibung von Hilfsmitteln für diese Patientinnen und Patienten läuft über Hausärztinnen und Hausärzte. Halbherzige Entbürokratisierung hilft überhaupt nicht weiter. Dreißig Jahre Misstrauenskultur, die in einer Kontrollbürokratie mündet, die zum größten Zeitfresser im Gesundheitswesen geworden ist, und Lieferengpässe sowohl bei Medikamenten als auch bei Heil- und Hilfsmitteln führen zu einer gewaltigen Unzufriedenheit aller. Wir müssen diese Spirale durchbrechen! Es wäre ein wichtiges Signal der Politik, wenn sie mit den längst überfälligen Gesetzen für Entlastung in Praxen und Kliniken sorgen würde. Genügend Vorschläge zur Entbürokratisierung hat die Selbstverwaltung vorgelegt, die sich natürlich auch selbst hinsichtlich ihrer bürokratischen Vorgaben kritisch hinterfragen muss. Dr. Sven Dreyer, Präsident der Ärztekammer Nordrhein Foto: Jochen Rolfes
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=