Gutachtliche Entscheidungen

98 | Gutachtliche Entscheidungen Metamizol und Agranulozytose – Aufklärungspflicht In der Gutachterkommission für ärztliche Behand- lungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein musste der folgende Fall beurteilt werden. Sachverhalt Die 31-jährige Patientin stellte sich notfallmäßig bei einem Arzt für Orthopädie wegen tiefsitzender Rü- ckenschmerzen mit Schmerzausstrahlung in beide Beine bei Schmerzverstärkung durch Husten, Niesen und Pressen vor. Der Arzt stellte klinisch die Diagnose einer akuten Lumbago mit Verdacht auf Bandschei- benvorfall. Eine Röntgenuntersuchung wurde nicht durchgeführt. Neben Verhaltensempfehlungen wie Wärmeanwendung und intermittierend Stufenbett- lagerung erfolgte eine schmerzlindernde Behandlung mit Ibuprofen 2 x 600 mg/Tag oral sowie mit einer Infusionstherapie in Form eines sogenannten Göttin- ger Tropfes, bestehend aus 8 mg Dexamethason und 2,5 g Novaminsulfon ® in 500 ml Infusionslösung (An- merkung: für diese Infusionstherapie gibt es keine ra- tionale Grundlage und sie wird in einschlägigen Leit- linien nicht empfohlen). Diese Therapie wurde in 2- bis 5-tägigen Abständen insgesamt sechs Mal durchge- führt. Ein geplanter Wiedervorstellungstermin wurde von der Patientin nicht wahrgenommen. Vier Tage nach der letzten Infusion stellte sich die Pa- tientin mit Schluckbeschwerden, Fieber bis 40° C und Verschlechterung des Allgemeinzustandes in einer Kli- nik für HNO-Heilkunde vor. Dort wurde außer einem hyperplastischen geröteten Zungengrund kein patho- logischer Befund erhoben. Die Arbeitsdiagnose lautete „Zungengrundangina, Verdacht auf Soor der Zunge, Herpesangina“. Zur Therapie wurde neben Unacid ® zur Schmerzlinderung erneut Novalgin ® verabreicht, obwohl schon bei der Aufnahme eine Leukopenie von 0,6/nl bestand. Auch in den Folgetagen wurden mehr- fach deutlich verminderte Leukozytenwerte zwischen 0,7 und 0,9/nl festgestellt. Das Differenzialblutbild be- stand aus ein Prozent segmentkernigen Granulozyten bei 97 Prozent Lymphozyten. Zwei Tage nach der stationären Aufnahme wurde bei einer Computertomographie der Halswirbelsäule eine kontrastmittelaffine Gewebsvermehrung rechts zervikal mit unscharfer Abgrenzung und zentraler Aufhellung diagnostiziert, vereinbar mit einem Pe- ritonsillarabszess bei Zustand nach Tonsillektomie. Bei anhaltender Leukopenie und unter Antibiotika- gabe erfolgte weiterhin eine Infusionstherapie mit 3 x 1 g Novalgin ® /Tag sowie 4 x 30 Tropfen Nova- minsulfon ® . Wegen der phlegmonösen Schwellung im Halsbereich erfolgte eine Exzisionsbiopsie am rechten Zungengrund in Intubationsnarkose. Post- operativ kam es zu einer leichten Verbesserung des Allgemeinbefindens bei persistierender Leukopenie. Die mikroskopische Untersuchung des peripheren Blutes ließ ein vollständiges Fehlen der Granulopose erkennen. Die Patientin wurde in eine Abteilung für Hämatologie und Onkologie verlegt. Dort wurde aus dem Knochenmarkszytologiepräparat die Verdachts- diagnose eines multiplen Myeloms gestellt. Während des mehrtägigen Aufenthaltes in der beklagten Kli- nik bestanden wechselnde Temperaturen zwischen 37 und 40° C mit intermittierend auftretendem Schüt- telfrost. Medikamentös erhielt die Patientin auch hier regelmäßig Paracetamol und Novalgin ® -Tropfen zur Schmerzmedikation und Fiebersenkung. Neunzehn Tage nach erstmaligem Nachweis der Leu- kopenie wurde die Patientin schließlich in eine Uni- versitätsklinik verlegt. Hier wurde die Patientin mit Neupogen ® behandelt und unter Vermeidung weite- rer Metamizolgaben sistierte das Fieber und die Pa- tientin konnte nach drei Wochen in die hausärztliche Weiterbehandlung entlassen werden. Als Ursache für die anfänglichen Rückenschmerzen stellte sich im CT und MRT eine Spondylodiszitis heraus, die über meh- rere Wochen antibiotisch behandelt wurde. Seltene Nebenwirkungen des Schmerzmittels Metamizol (Novaminsulfon®, verbreitetes Handelspräparat Novalgin®) geben immer wieder Anlass zu Diskussionen über Indikationen zu seiner Anwendung und über mögliche Aufklärungs- obliegenheiten. von Johannes Köbberling und Rötger von Alpen Orthopädie und Unfallchirurgie

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