Gutachtliche Entscheidungen
Gutachtliche Entscheidungen | 91 Neurologie Behandlungsfehlervorwürfe bei verwirrten oder bewusstseinsgestörten Krankenhauspatienten Eine 58-jährige depressive Patientin erlitt postoperativ nach Osteosynthese einer Tibia-Kopffraktur einen wei- teren Sturz und ein psychotisches Delir für elf Tage. Als dessen Ursache stellte sich am vierten Tag eine Lithium-Intoxikation (2,17 mmol/l) heraus. Während des vierwöchigen Aufenthaltes bei postoperativerWund- infektion war der Lithiumwert zuvor fehlerhaft nicht überprüft worden, obwohl mit Celebrex ® und Ibuprofen gleichzeitig Medikamente verordnet worden waren, die mit Lithium interagieren können. Auf ein psychia- trisches Konsil am zweiten Tag des Delirs wurde feh- lerhaft erst mit einer Verzögerung um2,5 Tage reagiert. Nicht erkanntes Dekubitusrisiko Bei einem 80-jährigen immobilen Parkinsonpatienten, der während einer Herzinfarktbehandlung zeitweise so desorientiert und verwirrt war, dass er an mehre- ren Tagen fixiert werden musste, wurde das hohe De- kubitusrisiko über zwei Wochen nicht erkannt und nicht durch ärztliche Anordnung von Lagerungs- und Prophylaxemaßnahmen sowie klinischer Kontrolle der Prädilektionsstellen begleitet. Dies führte dazu, dass an der rechten Ferse ein Dekubitus zweiten Gra- des aufgetreten ist und dass sich an der linken Ferse ein vorbestehender Dekubitus zum Grad III verschlech- tern konnte. Keine Sicherungsmaßnahmen zur Sturzprophylaxe Bei einem aufgrund einer hochgradigen Hyponatri- ämie somnolenten, wesensveränderten, nicht zustim- mungsfähigen 76-jährigen Patienten wurden indizier- te Schutzmaßnahmen zur Risikominimierung, wie Niedrigflurbett und vorgelegte Matratze, nicht ver- anlasst (Obhutsverletzung), obwohl er bereits in der Aufnahmenacht zweimal innerhalb von zweieinhalb Stunden gestürzt war. Durch einen schweren dritten Sturz aus dem Bett am Folgetag kam es zu einem sub- duralen Hämatom. Bei einem 56-jährigen Tumorpatienten wurde wäh- rend der stationären onkologischen Therapie eine Zahnextraktion erforderlich. Es wurde versäumt, die Zahnklinik über die beim Patienten bestehende zeit- weise Verwirrtheit und Desorientiertheit mit Über- wachungsnotwendigkeit zu unterrichten, sodass der unbeobachtete Patient imWartebereich von der Trans- portliege stürzte und eine operationsbedürftige dislo- zierte Femurhalsfraktur erlitt. (Teil-)Erleben einer Bewusstseinsstörung („Delir“) als haftungsbegründender Behandlungsfehler an- erkannt, andere Teilaspekte waren zum Beispiel zehn von 47 Sturzfolgen, sechs von 19 Dekubitalläsionen und zwei von 37 erduldeten Fixierungen. Unter den 45 Todesfällen im Zeitraum der vorgeworfenen Behand- lung (ein Behandlungsfehler pro Fall gezählt) wurde in fünf Fällen der Tod als Folge des Behandlungsfeh- lers erkannt. Die im Einzelnen festgestellten Behand- lungsfehler werden in der T abelle 2 zusammengefasst. Im Folgenden werden 20 Fälle kurz exemplarisch dar- gestellt. Zu spät erkannte und behandelte Ursache der Bewusstseinsstörung Bei einem 88-jährigen desorientierten Patienten wur- de fälschlich von der nächtlichen Notaufnahme trotz einer auf ein akutes Koronarsyndrom hinweisenden Symptomatik und entsprechenden EKG-Veränderun- gen eine Verlegung auf eine neurologische Station vorge- nommen. Der Patient wurde dort über 18 Stunden nicht weiter differenzialdiagnostisch untersucht, sodass er nachfolgend zunächst stürzte, nach telefonischer An- ordnung Tavor ® erhielt, kurze Zeit später bei zuvor nicht erkanntem Herzinfarkt reanimationspflichtig wurde, einen hypoxischen Hirnschaden erlitt und verstarb. Für den Tod des Patienten hatten die Ärzte aufgrund des als grob bewerteten Behandlungsfehlers zu haften. Bei einem 79-jährigen multimorbiden Patienten wur- de eine nicht indizierte und sehr massive Ausschwem- mung mit einem Schleifendiuretikum innerhalb von 72 Stunden vorgenommen, ohne dass ärztlicherseits anhand der vorhandenen Ein- und Ausfuhrprotokolle auffiel, dass es zu einer erheblichen Minusbilanz und klinisch zu einer Verwirrtheit des Patienten kam, so- dass er aus dem Bett stürzte und ein starkes Weichteil- hämatom mit behandlungsbedürftiger Anämie erlitt. Bei einem75-jährigenPatientennachThalamusblutung wurde ein grober Befunderhebungsfehler festgestellt. In der Reha-Klinik hatte er über drei Wochen unter teils wässrigen Durchfällen gelitten. Unter Zustandsver- schlechterung wurde er zunehmend verwirrt und des- orientiert. Eine ausgeprägte Hypokaliämie von dann 2,0 mmol/l und eine Hypernatriämie von 153 mmol/l waren in Ermangelung von Laborkontrollen und auch im durchgeführten EKG nicht erkannt worden.
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