26 | Jahresbericht 2022 Ärztekammer Nordrhein Kammerversammlung fessor Dr. iur. Adrian Schmidt-Recla von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena gleich zu Beginn klar. Dabei müsse der Staat auch die Grundrechte derjenigen Personen schützen, die zum Beispiel aufgrund einer psychischen Erkrankung, einer Demenz oder ihres jungen Lebens- alters nicht einwilligungsfähig seien. Ein rechtliches und tatsächliches Dilemma entstehe immer dann, wenn das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur dadurch geschützt werden könne, indem es verletzt werde, weil ein Patient sich beispielsweise in selbst- oder fremdgefährdender Weise gegen eine nutzbringende Behandlung wehre. „Handlungsleitend muss bei Zwangsmaßnahmen immer das Wohl der gefährdeten Person sein“, betonte Schmidt-Recla. „Davon gibt es keine Ausnahme.“ Ob ein Patient einwilligungsfähig sei oder nicht, beurteile letztlich immer ein erfahrener Arzt oder eine erfahrene Ärztin. „Ärzte sind die Torwächter der Freiheit“, erklärte der Jurist und betonte, Zwangsmaßnahmen seien nur in engen Grenzen zulässig: Sie müssten zum Wohl der Patienten notwendig sein und es dürften keine weniger belastenden Maßnahmen zur Verfügung stehen. Zudem gelte es, Patientenverfügungen zu beachten und den Versuch zu unternehmen, den Patienten von der notwendigen Behandlung zu überzeugen. Professor Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik Köln, sprach sich dafür aus, über Zwangsmaßnahmen auch im ambulanten Setting zu diskutieren. „Viele befürchten damit einen Dammbruch“, räumte sie ein. „Aber im Sinne der Patienten sollte das möglich sein.“ Die Psychiatrie beschäftige sich nicht erst seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 mit den ethischen Implikationen von Zwangsbehandlungen. Zwang gebe es im medizinischen Kontext häufig. Angefangen bei der Zwangsunterbringung, über die Zwangsmedikation und Zwangsernährung bis hin zur Fixierung, Isolierung oder Immobilisierung durch Bettgitter. Es sei richtig und wichtig, dass die Hürden für Zwangsbehandlungen in Deutschland deutlich angehoben worden seien. „Zwang kann nur als ultima ratio ausgeübt werden“, sagte Gouzoulis-Mayfrank. Der kategorische Ausschluss von Zwang sei jedoch keine Lösung für ethische Dilemmata. Dadurch würden im Zweifelsfall Menschen im Stich gelassen, die gut behandelt werden könnten. „Zwangsmaßnahmen sind wichtig, wenn Patienten nicht mehr wissen, was richtig und gut für sie ist“, sagte Christina Lopinski. Die heute 26-Jährige verbrachte als Jugendliche wegen einer Anorexie sechs Monate in einer psychiatrischen Klinik. Sie räumte ein, dass die Therapie dort inklusive der ausgeübten Zwänge ihre Genesung erst ermöglicht habe. Sie habe die Behandlung jedoch als paternalistisch und wenig mitfühlend empfunden. Man habe „mit professioneller Härte“ eine anorektische Dynamik behandelt, nicht den Menschen. „Feinfühligkeit und Empathie dürfen bei der Behandlung nicht zu kurz kommen“, so Lopinski. Kammerversammlung fordert die Einhaltung der Genfer Konvention Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein verurteilt den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der viele Menschenleben kostet und schweres körperliches und seelisches Leid verursacht. Tief besorgt nehmen die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte wahr, dass laut Weltgesundheitsorganisation bislang bereits 18 Kliniken, weitere Gesundheits- einrichtungen und Krankenwagen im Einsatz Ziele von Angriffen der russischen Armee geworden sein sollen. Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen stehen laut Genfer Konvention unter besonderem Schutz. Die Kammerversammlung verurteilt jeden Verstoß gegen die Genfer Konvention auf das Schärfste und fordert die Kriegs- führenden dringend zu deren Einhaltung auf. Ebenfalls fordert die Kammerversammlung alle Konfliktparteien auf, Zivilisten das sichere Verlassen der Kampfgebiete zu einem sicheren Ort eigener Wahl zu ermöglichen und humanitären Helfern den Zugang zu den Gebieten zu ermöglichen. Aufgrund des anhaltenden Krieges ist damit zu rechnen, dass Kriegsverletzte und kriegsunabhängig schwer erkrankte Personen in der Ukraine nicht mehr adäquat versorgt werden können. Das deutsche Gesundheitswesen ist in der Lage, einen Teil dieses Versorgungsbedarfes abzudecken. Die nordrheinische Ärzteschaft unterstützt die Aufnahme schwerstkranker Patientinnen und Patienten aus der Ukraine. Die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein begrüßt die Ankündigung des Bundesgesundheitsministers, dass Geflüchtete aus der Ukraine einen Anspruch auf alle von der Gesetzlichen Krankenversicherung angebotenen Leistungen erhalten sollen. Um einen möglichst unbürokratischen und einfachen Zugang zur ambulanten und stationären Versorgung zu ermöglichen, fordert die Kammerversammlung, dass Geflüchtete in allen Bundesländern eine elektronische Gesundheitskarte erhalten. Das erspart den Menschen vor jeder ärztlichen Behandlung den Gang zum Sozialamt und den Sozialämtern viel unnötige Bürokratie. Entschließungen der Kammerversammlung
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=