Rheinisches Ärzteblatt 01/2026

18 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 1 / 2026 Spezial denen Sinne. Professor Dr. Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte in der Medizin, entwickelte vor den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung den Gedanken der relationalen Patientenautonomie. Mit Blick auf das übergeordnete Thema der Vorlesungsreihe „Arztbild im Wandel“ wandte Maio sich gegen die heute oft noch vorherrschende Vorstellung, der Patient von früher, der der Fürsorge bedurfte, sei abgelöst worden durch den autonomen, unabhängigen, sich selbst bestimmenden Patienten. In der Arzt-Patient-Beziehung könne Autonomie nicht als ein absoluter Wert betrachtet werden, sondern als etwas, was sich in einem bestimmten sozialen und medizinischen Kontext entwickele. Anders als der Kunde, der frei aussuchen und Vergleichsangebote einholen möchte, habe der Patient keine Wahl. „Die Vorstellung, dass der Patient heute eher ein Kunde ist, der quasi souverän entscheidet, müssen wir relativieren, ohne in die Falle zu tappen, paternalistisch zu werden“, betonte der Freiburger Medizinethiker. Eine richtig verstandene Patientenautonomie könne vonseiten der Medizin nicht darauf reduziert werden, den Patienten wie einen Kunden nach seinen Wünschen zu fragen. „Darin geht die Rolle der Medizin nicht auf. Sondern Medizin ist eine Praxis, in der es darum geht, die Autonomie zu respektieren, aber zugleich Menschen darin zu begleiten, in einem Prozess überhaupt erst herauszufinden, was für sie wichtig ist.“ Gesprächsangebot machen Fragt man nach dem Wesen der Autonomie, so ist für Maio klar, dass diese nicht einfach Resultat eines isolierten inneren Prozesses ist, etwas, was man einfach abrufen kann, sondern Folge von Verflechtungen, in denen sich jeder Mensch befindet. Autonomie ist immer auch Ausdruck von etwas, was wir anderen verdanken. „Man ist nicht autonom aus sich selbst heraus.“ Autonomie stellt für Maio das Potenzial dar, das sich in den Begegnungen mit anderen realisiert. Die Autonomie erscheint ihm als Resultat von Prozessen, durch die Menschen befähigt werden, eine Selbstachtung zu empfinden. Nun sei die Medizin die Disziplin, sagt Maio, die durch das, was sie einem Menschen mitteilen muss, diesen in eine Situation hineinstürzt, in der das bisher als evident Gegoltene plötzlich fraglich wird. Das Krankwerden führt zu einer Lebenskrise, die an alten Gewissheiten zweifeln lässt. Die Autonomie ist erschüttert. Gerade in diesen Lebenskrisen, in denen alles brüchig werden kann, begegnet der Arzt den Menschen. Und in dieser Situation helfe es nicht weiter, betont Maio, mit einer Checkliste an den vermeintlich souveränen Patienten heranzugehen. „Wenn Menschen an sich zweifeln, weil sie plötzlich krank geworden sind und nicht wissen, wohin die Reise führt, dann sind diese Menschen in einer Situation, in der man nicht fragen darf ,Was willst du jetzt?‘, sondern in der man erst einmal dafür sorgen muss, dass diese Krise bewältigt wird.“ Ärzte seien es den Patienten, die sich in einer Krisensituation befinden, schuldig, sich für sie zu interessieren, sie zu begleiten und ihnen ein Gesprächsangebot zu machen. Nur so könnten die Patienten in die Lage versetzt werden, sich der Konfrontation mit einer Lebenskrise zu stellen und in dieser Angewiesenheit auf die Hilfe anderer eine neue Autonomie zu entwickeln. Medizinethiker Maio sieht in dieser Autonomie nichts anderes als „die Fähigkeit, einen kreativen Umgang mit Angewiesenheitsverhältnissen zu finden“. Über die Sorge zur Autonomie Nach diesem Verständnis bleibt in Bezug auf das ArztPatienten-Verhältnis auch nichts mehr von dem vermeintlichen Gegensatzpaar Fürsorge/Autonomie übrig. Ärztliche Identität realisiert sich gemäß Maio darin, in den Momenten der Krisenhaftigkeit den Menschen dabei zu helfen, wieder neu zu sich selbst zu finden. „Die Devise für die ärztliche Identität kann nicht lauten: Autonomie statt Fürsorge, sondern sie muss lauten: Autonomie durch Sorge.“ Die Medizin müsse ein Konzept von Sorge entwickeln, in dem der Sorge die Aufgabe der Autonomieermöglichung zukommt. Die so verstandene Sorge kann für Maio nicht das Resultat eines proaktiven Vorgehens sein, bei dem der Arzt ohne wirkliches Gespräch ein Verfahren bestimmt. Sorge zeichne sich dadurch aus, dass sie antworte. „Ich muss immer von der Sorge des anderen auf die Sorge für ihn hin agieren“, betont Maio. Sorge vollzieht sich also in einer Interaktion, in einem Gespräch, was wiederum Zuhören voraussetzt. Im richtig verstandenen Sinne ließe sich die Sorge auch als „die Geburtshelferin der Autonomie durch Beziehung“ beschreiben. Maio ist überzeugt: „Dort wo das Gespräch ausbleibt, und sei es aus strukturellen Gründen, ist die Medizin keine Autonomie realisierende Medizin.“ Medizin braucht Haltung Die schwierige Aufgabe, in Interaktion mit dem Patienten durch Verständnis und Zuspruch dessen Ressourcen zu mobilisieren, könnten Ärztinnen und Ärzte nur über die dafür erforderliche Sorgfalt realisieren. Sorgfalt bedeutet für Maio auch, sich nicht darin beirren zu lassen, etwas mit Hingabe und Engagement zu tun. Sorgfältigkeit enthält für ihn diesen Aspekt der Unbeirrbarkeit, wonach das, was die Medizin macht, immer die Initiation eines Prozesses darstellt. „Darin erschöpft sich die Identität der Medizin – zu begreifen und dran zu bleiben, weil es sich jederzeit verändern kann.“ Die Autonomie entwickelt sich durch den Prozess der Sorge. Die Sorge müsse identitätsstiftend sein für die Medizin, führte Maio aus, und deshalb sei es wichtig, im Medizinstudium nicht nur Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, sondern auch eine bestimmte Haltung als Voraussetzung für eine wirklich patientenorientierte Medizin. Die Frage, was der Patient habe, sei wichtig; aber sie müsse ergänzt werden durch die Wer-Frage. Eine solche patientenorientierte Medizin sei ohne die Ermöglichung des Gesprächs, ohne die Ermöglichung von Zeit nicht denkbar.

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