Rheinisches Ärzteblatt 03/2025

28 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 / 2025 Laut Bundesfamilienministerium leben in Deutschland schätzungsweise knapp 70.000 Frauen und Mädchen, die eine oder mehrere Arten weiblicher Genitalbeschneidung (FGM/C) erlitten haben. Für Ärztinnen und Ärzte, die Betroffene therapieren, geht es vorranging um Prävention, Behandlung und Rekonstruktion. Doch wie erkennen Mediziner das Ausmaß einer Beschneidung, und wie sollte man sich bei der Aufklärung der Frauen und Mädchen verhalten? von Vassiliki Temme FGM/C (Female Genital Mutilation/ Cutting) wird an Mädchen ab dem Säuglingsalter vorgenommen, in den meisten Fällen vor Beginn oder während der Pubertät. Sie wird ohne medizinische Indikation und meist unter unhygienischen Bedingungen, ohne Betäubung und von medizinisch nicht geschultem Personal durchgeführt – oft mit Rasierklingen, Glasscherben oder Ähnlichem. So ist sie mit starken Schmerzen verbunden, kann schwere gesundheitliche körperliche und psychische Schäden verursachen und führt nicht selten zum Tod. Die Praxis der Genitalverstümmelung ist in den meisten Staaten – unter anderem in allen Staaten der Europäischen Union – strafbar. Laut UNICEF sind weltweit über 230 Millionen Mädchen und Frauen von diesem Schicksal betroffen. Die meisten stammen aus Somalia, Eritrea, Indonesien, Ägypten oder dem Irak. In Deutschland ist die Durchführung der Beschneidung eine Straftat, die zu einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren führen kann. Dabei ist es vor Gericht egal, ob diese Straftat in Deutschland oder im Ausland begangen wurde. Kultursensibel behandeln Agata Romanski-Ordas, Oberärztin der Frauenklinik am Lukaskrankenhaus in Neuss, behandelt betroffene Frauen und Mädchen, die mit einer Überweisung von niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen zu ihr kommen. „Meist stellen sich bei uns Frauen in der Schwangerschaft vor. Da geht es dann um Geburtsplanung, beispielsweise um die Vorbereitung operativer Therapien, um eine spontane Geburt überhaupt wieder möglich zu machen“, erklärt Romanski-Ordas im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. FGM/C sei in vielen Ländern Teil der Kultur. Die meisten Frauen und Mädchen, so die Oberärztin, wüssten gar nicht, dass die Beschneidung kein Normalzustand ist. „Beschwerden werden von den Betroffenen selbst gar nicht darauf zurückgeführt, aber leider auch nicht von sehr vielen Fachärztinnen und -ärzten“. Für Romanski-Ordas ist die Art und Weise, wie man mit betroffenen Frauen und Mädchen über das, was ihnen passiert ist, spricht, ein wesentliches Element der Behandlung. „Die Betroffenen stammen aus patriarchalen Gesellschaften, sie haben ein Kontinuum an Gewalt und Menschenrechtsverletzungen hinter sich. Oftmals werden die Beschneidungen auch mehrmals im Laufe des Lebens durchgeführt, häufig im Zuge von Zwangsheiraten und Geburten. Die Frauen und Mädchen sind hoch traumatisiert und dies gilt es, nicht zu triggern. In der Klinik kann beispielsweise schon die Rückenlage zur Geburt ein Auslöser sein“, erläutert die Gynäkologin. Um eine solche Retraumatisierung zu vermeiden, sollten Ärztinnen und Ärzte insbesondere Wert auf eine wertschätzende und sichere Atmosphäre legen. Zudem sollten sich behandelnde Mediziner nicht davor scheuen, die Frauen auf FGM/C anzusprechen. Hierbei sei eine sensible, mitfühlende Sprache wichtig. In ihrer Arbeit bei der Beratungsstelle stop-mutilation Deutschland e.V. hat Romanski-Ordas das große Glück, mit Muttersprachlerinnen zusammenzuarbeiten. „Das ermöglicht natürlich einen viel leichteren Einstieg und eine bessere Kommunikation.“ Die Begegnungen mit den Frauen und Mädchen, so die Oberärztin, seien für sie sehr inspirierend: „Diese Frauen sind sehr resilient, haben eine enorme Kraft. Manchmal begegnen sie mir als Mädchen und ich kann miterleben, wie sie zu selbstbewussten Frauen heranwachsen.“ Erst vor einigen Wochen hat Romanski-Ordas eine sogenannte Defibulation (Wiedereröffnung des Vestibulums nach einer Infibulation) bei einer Schwangeren im zweiten Schwangerschaftsdrittel durchgeführt, die nach Typ 3 (siehe Kasten unten) beschnitten worden war. „Bei der Eröffnung der Narbenplatte der verschlossenen äußeren Vulvalippen haben wir feststellen können, dass die inneren Vulvalippen und die Klitoris noch völlig intakt waren. Die Patientin und ihr Partner waren sehr berührt und haben sich sehr gefreut – so wie auch das Team in der Klinik.“ Recht auf Asyl? Die Sprechstunde bei der Beratungsstelle in Düsseldorf, bei der die Gynäkologin seit 2017 ehrenamtlich tätig ist, erfolgt ganz Forum Schmerzhaftes Schicksal Typ I, die „Klitoridektomie“, bezeichnet die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut. Typ II, die „Exzision“, bedeutet, dass der äußerlich sichtbare Teil der Klitoris sowie die inneren Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt werden. Mitunter werden auch die äußeren Schamlippen verstümmelt. Typ III, die „Infibulation“, ist die schwerste Form weiblicher Genitalverstümmelung. Das gesamte Genital (Klitoris[vorhaut] und Schamlippen) werden entfernt, und die Wunde bis auf ein kleines Loch wird zugenäht. Durch dieses kleine Loch sollen Urin und Menstruationsblut abfließen, ohne dass eine Penetration möglich sein soll. Typ IV bezeichnet alle weiteren, medizinisch nicht begründeten Eingriffe, welche die Vulva und Klitoris der Frau nachhaltig schädigen. Darunter fallen zum Beispiel Ätzen, Brennen, Scheuern und das Auftragen von nervenschädigenden oder betäubenden Substanzen. Quelle: TERRE DES FEMMES Menschenrechte für die Frau e. V. FGM/C-Typen

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=