Rheinisches Ärzteblatt 4/2023

28 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 4 / 2023 missbrauchen und keine falschen Erwartungen zu wecken. Selbstoptimierung oder Enhancement gehöre ganz klar in den Bereich der wunscherfüllenden Medizin, für die es keine medizinische Indikation gebe, betonte auch Professor Dr. Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen. Darunter fielen ästhetisch-plastische Eingriffe ebenso wie Körpermodifikationen („Eidechsenmann“), -mutilationen (Zahnfeilungen, Lippenteller) oder Piercings. Der Trend zur Selbstoptimierung ist nach Auffassung von Groß insbesondere von drei gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst: Individualisierung, Wettbewerb und Medikalisierung. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung und Unverwechselbarkeit sei in der modernen Gesellschaft an die Stelle des Gemeinschaftssinns getreten. Zugleich übten Peer-Groups Druck auf den Einzelnen aus, dem Gruppenstandard zu entsprechen, sei es in punkto Leistungsfähigkeit oder Aussehen. „Man lässt sich dann ein Zungenpiercing machen, weil alle anderen auch eins haben“, so Groß. Dazu komme das Phänomen, eigentlich physiologische (Alters-)Erscheinungen als behandlungsbedürftig anzusehen und entsprechende medizinische Therapieangebote zu suchen. Ständige Selbstvermessung Den Zusammenhang zwischen Leistungsdruck und Selbstoptimierung in der Gesellschaft, stellte PD Dr. Anja Röcke, Soziologin und Assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin, heraus. Dieser sei zwar nicht der alleinige, aber ein wichtiger Erklärungsfaktor, sagte sie. „Selbstoptimierung war noch nie so verbreitet. Noch nie waren mehr Möglichkeiten verfügbar“, erklärte Röcke und verwies auf Podcasts, Influencer in den sozialen Medien sowie einen nach wie vor wachsenden Markt an Ratgeberliteratur und Coachingangeboten, um die eigene physische, psychische und mentale Fitness zu optimieren. „Normal ist nicht optimal“, beschrieb sie den gegenwärtigen Ansatz, der auch die weltweit steigenden Zahlen an Schönheitsoperationen beeinflusse. „Wir erleben eine Veralltäglichung der Selbstvermessung“, sagte Röcke. Sie hob aber zugleich hervor, dass nicht alle Messinstrumente und Methoden ausschließlich der Selbstoptimierung dienten, die immer auf die Überbietung des Mittelwertes ziele. Instrumente wie zum Beispiel Fitnesstracker könnten durchaus auch zur gesundheitlichen Prävention genutzt werden. Mit Grenzbereichen der ästhetischen Chirurgie befasste sich Professor Dr. Jutta Liebau, Chefärztin der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie am FlorenceNightingale-Krankenhaus Düsseldorf. Sie betonte, dass die Indikationsstellung zu ästhetischen Behandlungen immer gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten erfolgen müsse – und zwar nach ausführlicher Beratung und umfassender Risikoaufklärung. Dabei müssten auch Alternativen zu ästhetischen Eingriffen sowie Nebenwirkungen und Spätfolgen angesprochen werden. Es sei unerlässlich, dass die Patienten die Tragweite eines Eingriffes verstehen und vor allem eine realistische Erwartungshaltung entwickeln. Beim Wunsch nach einem ästhetischen Eingriff spielten immer auch Schönheitsideale eine Rolle, die über Hochglanzmagazine oder soziale Medien verbreitet würden. „Hier werden Bedürfnisse geweckt“, sagte Liebau. Manchmal müsse man daher als Ärztin oder Arzt auch „nein“ sagen zu einem Eingriff. Wie zuvor Kammervize Zimmer betonte Liebau, dass auch im Bereich der ästhetischen Chirurgie in jedem Fall der Facharztstandard einzuhalten sei. Die Orientierung an körperlichen Schönheitsidealen ist das eine. Immer häufiger greifen Menschen aber auch zu geistigen Stimulanzien, um ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen oder die eigene Stimmung aufzuhellen. Zum Einsatz kommen hier sowohl Psychopharmaka und Neurologika als auch illegale Drogen wie Speed, Crystal Meth oder Kokain. Eine Dienstleistungsgesellschaft erwarte, dass der Einzelne auch sein mentales Kapital ausschöpfe, sagte Professor Dr. Andreas G. Franke von der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit am Campus Mannheim. Er wies insbesondere auf die Schwierigkeit hin, die Prävalenz des Substanzgebrauchs zur geistigen Leistungssteigerung zu erheben. Sie hänge immer ab von der Art der Befragung und der Ehrlichkeit der Antwortenden. So liege beispielsweise je nach Fragetechnik der Gebrauch verschreibungspflichtiger psychoaktiver Substanzen oder Drogen zur Leistungssteigerung bei Chirurgen in Deutschland zwischen neun und 20 Prozent. Ähnliche Werte erzielten Befragungen bei anderen Gruppen höherer Angestellter. Dabei sei die Einnahme immer assoziiert mit Leistungsdruck im Beruf oder im Privatleben und mit dem Einkommen. „Siebzig ist das neue sechzig“ Auf seinen (ärztlichen) Alltag brach Dr. Stefan Meier, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, das Thema Selbstoptimierung herunter. „Ich frage mich, welche Möglichkeiten ich in Anspruch nehmen möchte oder muss, um mit den körperlichen und geistigen Anstrengungen bis zur Rente fertig zu werden“, sagte Meier mit Blick auf das eigene Älterwerden. Wenn „siebzig ist das neue sechzig“ durch Anti-Aging-Angebote gestützt werde, wenn „besser leben“ gesellschaftlich, aber auch im ärztlichen Tun vor allem die Wiederherstellung und Beibehaltung eines aktiven, geistig und körperlich fitten Menschen sei, warum sollte man dann Selbstoptimierungsangebote nicht annehmen, fragte er. Wenn letztlich das Ziel vieler ärztlicher Bemühungen die Vermeidung von Seneszenz und Bedürftigkeit sei, seien Initiativen zur Selbstoptimierung dann nicht sogar zu begrüßen? Meiers Resümee: „Selbstoptimierung ist vor allem eine Frage des Menschenbildes.“ Forum Die Ärztekammer Nordrhein hat bereits 2019 eine Handreichung „Schönheitsoperationen/Ästhetische Behandlungen“ für Patientinnen und Patienten herausgegeben. Neben der Empfehlung, sich über die eigenen Motive für ästhetische Eingriffe klar zu werden, informiert die Broschüre über ärztliche Qualifikationen sowie ärztliche Aufklärungs- und Sorgfaltspflichten. Sie bietet zudem eine Checkliste, die Patienten dabei unterstützen soll, im Vorfeld eines ästhetischen Eingriffs die Qualität der Behandlungsangebote einschätzen zu können. Die Handreichung kann über die Homepage der Ärztekammer Nordrhein heruntergeladen werden: www.aekno.de/schoenheitsoperationen Handreichung für Patienten

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