Rheinisches Ärzteblatt 4/2024

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 4 / 2024 41 Kulturspiegel Das Theater Bonn zeigt „Woyzeck“ von Georg Büchner in einer Inszenierung von Sarah Kurze. von Jürgen Brenn An Georg Büchner kommen deutsche Schülerinnen und Schüler kaum vorbei. Das Dramen-Fragment „Woyzeck“ gehört zum Bildungskanon. Der mit nur 23 Jahren an Typhus verstorbene Büchner hat das Werk zwischen 1836 und 1837 niedergeschrieben. Es blieb unvollendet und wurde in mehreren Entwürfen überliefert. Erst 1879 erschien „Woyzeck“ in gedruckter Form und die Uraufführung fand 1913 in München statt. Das Stück gehört immer noch zu den meistgespielten Dramen in Deutschland. Im Grunde war Büchner nicht nur sprachlich und dramaturgisch seiner Epoche weit voraus. So gilt „Woyzeck“ als Vorläufer des Expressionismus und als erstes Sozialdrama der Neuzeit, das Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind stark beeinflusste. Die Bonner Inszenierung, bei der Sarah Kurze Regie führt, hat Anklänge an den Surrealismus und Dadaismus. Ähnlich wie bei „Warten auf Godot“ dreht Woyzeck, gespielt von Timo Kählert, der für den erkrankten Paul Michael Stiehler eingesprungen ist, minutenlang hochkonzentriert und mit gesenktem Kopf seine immer gleichen Runden und erledigt dabei zwei seiner drei Jobs. Er exerziert entlang des Bühnenrandes, bevor er sich in eine Ecke einer der aufgestellten Container-Behausungen drückt und versucht, in einen Becher zu urinieren. Denn Woyzeck ist nicht nur Soldat, der zu exerzieren hat, sondern er hat sich auch als Versuchskaninchen für eine Ärztin verdingt, die ihn seit Wochen auf Erbsen-Diät gesetzt hat und ungeduldig nach seiner Urinprobe fragt. Julia Kathinka Philippi gibt die von ihrem naturwissenschaftlichen Status leicht beschwipste Ärztin, die ihr Versuchsobjekt wie eine Laborratte ansieht und auch so behandelt. Die Choreografie – exerzieren, urinieren, im Kreis laufen – bleibt während der Inszenierung die Hauptbeschäftigung des jungen Soldaten, die lediglich von seiner dritten Tätigkeit unterbrochen wird. Woyzeck dient dem Hauptmann auch als Barbier. Alois Reinhardt spielt den arroganten Immer und immer wieder Sandrine Zenner (links) spielt im Theater Bonn die Geliebte von Woyzeck und Birte Schrein ist Margret, die einen Kiosk führt und Woyzeck das schicksalhafte Messer verkauft. Foto: Sandra Then Offizier, der keine Gelegenheit auslässt, seinen Untergebenen genüsslich zu demütigen. Er lässt Woyzeck spüren, wer gesellschaftlich im Licht und wer im Schatten steht. Mit überheblich geschwellter Brust befiehlt er seinem Diener, den Hocker für die morgendliche Rasur einmal hierhin und dann wieder dorthin zu stellen, um dann kurz bevor er sich setzt, den Hocker wieder versetzen zu lassen. Woyzeck muss jedes Mal springen und kommt aus der katzbuckligen Haltung nicht mehr heraus. Ist es die vermaledeite Erbsen-Diät oder seine ihm immer auswegloser erscheinende Existenz? Woyzeck verzweifelt an seiner Lage und der Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Schichten, die er klar vor Augen hat. Doch er sieht keine Möglichkeit, seinem Schicksal zu entkommen. Seine Gebrochenheit spiegelt sich auch in seinen Reden wieder, die seiner Umwelt immer wirrer und unverständlicher erscheinen. Auch seine Freundin Marie, bodenständig gespielt von Sandrine Zenner, und ihr gemeinsamer Sohn können Woyzecks depressive Gemütslage nicht ändern. Da ihm wegen seiner drei Jobs kaum Zeit bleibt, zieht Marie das Kind quasi allein groß. Es gibt nur wenige Dialoge zwischen den beiden, wobei Marie vergebens versucht, an ihn heranzukommen. Der junge Soldat versinkt grübelnd immer mehr in seiner eigenen Welt. Ein etwas freundlicheres Spiegelbild ist sein Freund Andres, gespielt von Riccardo Ferreira. Er steckt in einer ähnlich misslichen Lage wie Woyzeck fest. Auch er muss den militärischen Drill und die Schikanen der Befehlshaber über sich ergehen lassen, allerdings tut er das mit einer gewissen schnoddrigen Gelassenheit und hofft darauf, dass irgendwann eine Revolution die gesellschaftlichen Zustände radikal ändert. Dass Woyzeck sich wie in einem Hamsterrad fühlt, in dem es keine Perspektive auf Besserung gibt, drückt ihn psychisch immer weiter zu Boden. Da ihm das Geld, das er für Marie und seinen Sohn verdient, nicht ausreicht, um sich eine Pistole zu kaufen, besorgt er sich ein Messer und bringt sich damit um. Aber auch dieser Zustand währt nicht lange und schon dreht er wieder seine Exerzier-Runden. Als er beobachtet, dass Marie mit einem Tambourmajor, in dessen Rolle in Bonn der Hauptmann schlüpft, flirtet und sich von ihm teure Geschenke machen lässt, ist für Woyzeck das Maß voll. Er ersticht zuerst Marie, bevor er sich selbst richtet. Informationen unter www.theater-bonn.de und Tel.: 0228 778-008

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