Rheinisches Ärzteblatt 06/2025

18 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 6 / 2025 Spezial dem Braunkohletagebau Inden weichen musste. In einer Notgrabung waren dort zuvor die Skelette aus dem Gräberfeld, das im Zeitraum vom 10. bis 12. Jahrhundert genutzt wurde, geborgen worden. Seitdem lagerten sie in einem Depot des Rheinischen Landesmuseums, ohne dass eine bioarchäologische Untersuchung erfolgte. Nun befasst sich Pathé im Rahmen ihrer von der Stiftung zur Förderung der Archäologie im rheinischen Braunkohlenrevier geförderten Dissertation am BoCAS mit den Skeletten aus dem Vilvenicher Gräberfeld. Aufgrund der Ausprägung der Schambeinfuge schätzt sie das Alter der Frau, deren Skelett vor ihr liegt, zum Zeitpunkt ihres Todes auf 35 bis 45 Jahre. „Bei Skeletten von Kindern ist die genauere Altersbestimmung einfacher, weil sich die Zähne noch entwickeln und weil die Epiphysen an den Langknochen noch zusammenwachsen müssen.“ Mit zunehmendem Alter werde die Bestimmung des Alters unpräziser. In einem Ellenbogengelenk erkennt Pathé einen Schaden, der bereits zu Lebzeiten entstanden sein müsse. „Was genau das war, ob eine Zyste oder ein Tumor, lässt sich nicht mehr bestimmen. Man sieht nur deutlich, dass hier schon vor dem Tod etwas begonnen hat, in den Knochen einzudringen“, erläutert die Anthropologin. Professor Dr. phil. Alice Toso, die als Bioarchäologin am BoCAS das Forschungsprojekt zum Vilvenicher Gräberfeld betreut, sieht in den osteologischen Befunden, das heißt auf der Grundlage von Veränderungen an den Knochen, oft die einzige Möglichkeit, etwas über die Lebensbedingungen vergangener Generationen – hier im Speziellen der mittelalterlichen Gemeinschaft in Vilvenich – zu erfahren. Es gebe eine ganze Reihe von Pathologien, die ihre Spuren auf den Knochen hinterlassen – angeborene, metabolische, entzündliche und infektiöse Reaktionen, erzählt sie im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. „Für mich ist dies ein ganz wichtiger Aspekt: Die Person, deren Skelett einen entsprechenden Befund aufweist, hatte mit dieser Erkrankung eine längere Zeit zu leben.“ Auch die Untersuchung von DNA-haltigem Zahnmaterial ermögliche Aussagen über pathologische Veränderungen, die beispielsweise auf Tuberkulose oder Lepra zurückzuführen sind. Voraussetzung für eine solche Bestimmung sei, dass das untersuchte Material aus zu Lebzeiten durchbluteten Gewebestrukturen stammt. Dagegen ließen sich akute Entzündungen oder Infektionen, die zum Tode führten, mit den Methoden der Bioarchäologie nicht feststellen, betont Juniorprofessorin Toso, die derzeit gefördert von der VolkswagenStiftung bestrebt ist, erstmals in Nordrhein-Westfalen den Studiengang „Bioarchäologie“ im Rahmen der Bonner Archäologie und Kulturanthropologie einzurichten. Fehlstellungen der Beine Neben den Veränderungen am Skelett lassen sich mithilfe von Isotopenanalysen des Knochenkollagens beispielsweise Feststellungen zu Ernährungsgewohnheiten treffen. Die Ergebnisse zeigen etwa, ob die untersuchte Person oder Gemeinschaft mehr tierisches oder pflanzliches Protein zu sich genommen hat. Eine 2021 im American Journal of Physical Anthropology publizierte Studie, mit Alice Toso als Erstautorin, dokumentierte etwa den Ernährungswandel, der sich im Verlauf der Reconquista in Portugal vollzogen hatte. Die Untersuchungen von spätmittelalterlichen Skeletten belegen den Wandel von einer vorwiegend auf Land- und Viehwirtschaft beruhenden islamischen Gesellschaft zu einer christlich dominierten Gesellschaft, die sich vorzugsweise mariner Ressourcen bediente und so auch eine der wesentlichen Voraussetzungen der späteren globalen Expansion schuf. Doch zurück zum rheinischen Fundort Vilvenich, der dem Braunkohletagebau weichen musste. Der Erhaltungszustand der aus den rund 120 Gräbern geborgenen Skelette sei sehr gut, sagt Alice Toso. Sie wiesen Auffälligkeiten auf, deren Genese bisher nicht eindeutig erklärbar sei. „Die Skelette zeigen solch merkwürdige Pathologien, dass wir darüber gerne mit Medizinern Um bei der bioarchäologischen Untersuchung menschlicher Skelette Rückschlüsse auf die Gesundheit und die Lebensbedingungen vergangener Generationen ziehen zu können, kommen insbesondere die folgenden Methoden zum Einsatz: · osteologische Analyse zur Bestimmung von Alter und Geschlecht, Körpergröße, Pathologien sowie Arbeits- und Belastungsspuren · Zahnanalyse für Hinweise auf Ernährung und Gesundheitszustand in der Kindheit sowie Stressphasen · Analyse stabiler Isotope (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Strontium) ermöglicht Aussagen zu Ernährung, geografischer Herkunft und Mobilität. · Extraktion alter DNA aus Knochen oder Zähnen zur Bestimmung von genetischen Merkmalen der beprobten Individuen selbst sowie zum Nachweis bestimmter Krankheitserreger (zum Beispiel Mycobacterium leprae oder Hepatitis-B-Virus) Methoden der Bioarchäologie Weitgehend erhaltene Skelette aus der Bonner Römerzeit (links) und dem mittelalterlichen Vilvenich zur Untersuchung im BoCAS Foto: Thomas Gerst

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