16 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 8 / 2025 Spezial siver und disziplinierender Pädagogik die Kinder auf den rechten Weg bringen wollte. Es ist ein stets gleicher Katalog von Erziehungs- und Bestrafungsmaßnahmen, an die sich die Betroffenen oft auch noch nach Jahrzehnten erinnern. Ein im Mai 2025 vorgestellter Forschungsbericht im Auftrag von Deutscher Rentenversicherung, Deutschem Caritasverband e. V., Deutschem Roten Kreuz und Diakonie Deutschland, die sich als Trägerorganisationen der Kurheime zur Aufarbeitung des Verschickungswesens verpflichtet sahen, beschreibt die in Interviews mit Betroffenen und in überlieferten Akten erfassten missbräuchlichen Praktiken. Es gebe deutliche Hinweise auf „verbreitete und strukturell bedingte Missstände“ heißt es zusammenfassend in dem Forschungsbericht. Vorherrschend sei ein auf Ordnung und Disziplin ausgerichteter Umgang mit den Kindern gewesen. Als fast schon regelhaft genannt werden der Essenszwang, die rigiden Schlafvorschriften, der Zwang zur Einhaltung fester Toilettenzeiten und die bei Zuwiderhandlung fälligen Strafen, oft verbunden mit der Androhung oder Ausführung von körperlicher und psychischer Gewalt. Es habe zahlreiche Hinweise auf die zwangsweise Gabe von Medikamenten gegeben. Hingewiesen wird in dem Forschungsbericht auch auf das meist rigoros überwachte Kontaktverbot zu den Eltern während des in der Regel sechswöchigen Kuraufenthalts, was bei vielen Kindern – häufig noch im Vorschulalter – mit dazu beigetragen haben wird, dass die Kinderverschickung als traumatisch empfunden wurde. Allerdings verweist der Forschungsbericht auch auf die große Heterogenität der Kureinrichtungen, sodass nicht überall von den genannten Missständen auszugehen sei; es gebe durchaus auch positive Erinnerungen von Verschickungskindern. Der online verfügbare knapp 800-seitige Forschungsbericht (www.drk.de, Suchbegriff: Verschickungskinder) ist der vorläufige Abschluss einer Reihe wissenschaftlicher Aufarbeitungen zum Thema Kinderverschickungen; so liegen zum Beispiel auch von der DAK und der Barmer in Auftrag gegebene Forschungsarbeiten vor. Diese kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So sieht Professor Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl, der die Abläufe der von der DAK durchgeführten oder bezuschussten Kinderkuren untersuchte, auf der Grundlage von Interviews ein breites Spektrum von Gewaltformen in den Kurheimen mit länger anhaltenden psychischen Folgen für die Betroffenen. „Nachweisbar sind die rigorose Abschottung der Kurkinder von der Außenwelt, eine ständige Kontrolle, die Unterwerfung unter rigide Tagesstrukturen, die Wegnahme persönlicher Gegenstände, …, verbale Herabsetzungen, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt, von Ohrfeigen über das Einsperren in einem Besenschrank oder das gewaltsame Eintrichtern von Erbrochenem bis hin zu massiven sexuellen Übergriffen.“ Auf den Druck von Betroffenen-Initiativen reagierte auch die Politik; in Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen wurden unter deren Beteiligung Runde Tische eingerichtet. Auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/ CSU und SPD von Mai 2025 fand das Thema „Verschickungskinder“ Eingang. Man wolle die Aufarbeitung der Misshandlungen von Kindern bei Kuraufenthalten zwischen 1950 und 1990 durch die „Initiative Verschickungskinder“ unterstützen, heißt es dort eher unverbindlich. Im März 2024 hatte sich der Familienausschuss des Deutschen Bundestages unter Hinzuziehung von Expertinnen und Experten mit dem Thema befasst. Zusammenfassend wurde in dem Sitzungsbericht darauf hingewiesen, dass die Verschickung in ein Kindererholungs- oder Kurheim eine medizinische Maßnahme gewesen sei. Diese sei auf ärztliche Verordnung durchgeführt worden, der Aufenthalt habe in ärztlich-pflegerisch geleiteten Einrichtungen stattgefunden, also müsse sich auch der Gesundheitsausschuss damit auseinandersetzen. Ärztlich verordnete Kinderkuren In der Tat waren Ärztinnen und Ärzte maßgeblich an der Inanspruchnahme und inhaltlichen Ausformung des Verschickungswesens beteiligt. Sie verordneten die Kuren der Kinder, überprüften als Amtsarzt oder Arzt des Vertrauensärztlichen Dienstes der Krankenkassen die Kurbedürftigkeit oder waren Leiter der Kurheime. Für Professor Dr. phil. Marc von Miquel, der 2022 im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen eine Studie zu den Verschickungskindern vorlegte, war die Kinderheilkunde die tonangebende Profession unter den Expertengruppen, die das Verschickungswesen steuerten. Es seien vor allem die Leiter großer Kureinrichtungen gewesen, die mit Aufsätzen und Studien an die Öffentlichkeit getreten und mit ihrem Deutungsanspruch weit über gesundheitsbezogene Fragestellungen hinausgegangen seien. Waren es im Nachkriegsjahrzehnt noch Mangelerkrankungen oder Infektionen wie etwa Tuberkulose, zu deren Behandlung die Kinder zur Kur geschickt wurden, so sieht von Miquel für die Folgezeit eine Indikationsausweitung, die nicht zuletzt auf Betreiben maßgeblicher Protagonisten der Kinderheilkunde in dieser Zeit zustande kam. Beispielhaft nennt er den Pädiater Professor Dr. Kurt Nitsch, in den 1960er- und 1970er-Jahren Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie, der sich 1964 in einem Standardwerk zur Durchführung von Kinderkuren (Sepp Folberth [Hg.], Kinderheime, Kinderheilstätten, 1. Auflage 1956, 2. Auflage 1964) für die vermehrte Berücksichtigung der „sozialen Indikation als Verschickungsdiagnose“ ausgesprochen habe. Grundsätzlich sei dem Leben in der Stadt ein gesundheitsschädigender Einfluss auf das heranwachsende Kind zugesprochen worden. Originalton Nitsch: „Wir dürfen uns auf den Standpunkt stellen, dass jedes Stadtkind, insbesondere jedes Großstadtkind der ‚Erholung‘ bedarf. D.h. einmal jährlich sollten diese Kinder mindestens Gelegenheit haben, den Dunstkreis der Zivilisation zu verlassen, um sich in der Lebensfrische der Landschaft auszutoben.“ Speziell in den Blick fasste Nitsch dabei Kinder aus nach seiner Vorstellung schwierigen Lebensverhältnissen, etwa „Kinder mit ausgesprochenem Wohnungs- und
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