Rheinisches Ärzteblatt / Heft 8 / 2025 17 Wasser und Brot statt einer Mahlzeit, Schläge nur ausnahmsweise (dann aber nicht ins Gesicht). Es habe in der Konzeption der Kinderkuren gelegen, „den verschickten Kindern die gesellschaftliche Ordnung in Körper und Seele einzuschreiben“, formuliert es Schmuhl. Langzeitfolgen bei Erwachsenen Ehemalige Verschickungskinder, die auf InternetPlattformen über ihren Kuraufenthalt berichten, sehen in den traumatischen Erfahrungen in diesen Wochen die Ursache für gesundheitliche Langzeitfolgen, insbesondere Depressionen, Ess- und Schlafstörungen. Für viele bedeutet die Wiederbefassung mit diesem Thema eine schwere psychische Belastung. Welche gesundheitlichen Folgen Kindheitstraumata im Erwachsenenalter haben können, zeigen die Ergebnisse der im vergangenen Jahr im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten NAKO-Gesundheitsstudie. Auf der Grundlage der Daten von rund 157.000 Teilnehmenden wurde der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und unterschiedlichen somatischen und psychischen Erkrankungen untersucht. Hierbei zeigte sich, dass die Personen, die über Kindheitstraumata berichteten, nicht nur eine erhöhte Diagnosewahrscheinlichkeit für Depression und Angsterkrankungen (Odds Ratios: 2,36 und 2,08) aufwiesen, sondern auch für somatische Erkrankungen, wie beispielsweise Schlaganfall (OR: 1,35) oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung (OR: 1,45). Vor dem Familienausschuss des Deutschen Bundestages berichtete die Psychologin Professor Dr. Ilona Yim über ihre Forschungen zu den Spätfolgen solcher Aufenthalte. Ihre Online-Befragung einer Betroffenengruppe habe für das Vorliegen depressiver Symptome einen Wert von 55,5 Prozent ergeben und liege damit um ein Mehrfaches über dem Durchschnittswert von zehn bis 15 Prozent für die deutsche Gesamtbevölkerung. Aus der Befragung gehe auch hervor, dass die ehemaligen Verschickungskinder eher aus bildungsferneren Familien stammten, deutlich höhere Scheidungsraten aufwiesen als die nichtbetroffene Vergleichsgruppe und weniger Nähe zu ihren Eltern empfanden. Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Arne Burchartz sieht in der Art und Weise, wie mit Verschickungskindern umgegangen wurde, ein hohes Risiko der kumulativen Traumatisierung. Für viele von ihnen, vor allem für die Kinder im Vorschulalter, habe bereits die Trennung von den Bezugspersonen über einen relativ langen Zeitraum eine traumatische Erfahrung bedeutet. Dies sei auch nicht durch einen liebevollen Umgang in den Kurheimen aufgefangen worden, habe das pädagogische Personal doch eher auf eine gefühlsarme disziplinierende Betreuung gesetzt. Auf den ersten Schock der Trennung seien dann weitere Traumatisierungen durch demütigende Strafen bei Verstößen etwa gegen die Essens- oder Toilettenvorschriften gefolgt. Viele Kinder seien dann in ihrer Verzweiflung einfach verstummt, oft auch als gebrochene und depressive Kinder nach Hause gekommen. Milieuschaden (auch in psychischer Hinsicht); Kinder von berufstätigen Müttern, die den Lebensunterhalt bestreiten müssen; Kinder aus kinderreichen, wirtschaftlich schwachen Familien; Kinder aus geschädigten und gestörten Familien“. Als Klientel scheint dabei alles subsumiert, was jenseits der gesellschaftlich anerkannten Norm aufwuchs. Von Miquel sieht hier einen „repressiven Grundzug der wohlfahrtsstaatlichen Intervention“. Kinder sollten einem für sie schädlichen Milieu entrissen werden und fernab von der Familie auf den rechten Weg gebracht werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass viele Kinder bereits im Vorschulalter für einen Zeitraum von sechs Wochen aus ihrem gewohnten Lebensumfeld heraus in eine Kureinrichtung gebracht wurden. Es sei darum gegangen, „die Kinder so lange aus dem vermeintlich schädlichen Herkunftsmilieu herauszuholen, bis dessen pathogene Wirkungen abgeklungen waren“, brachte Hans-Walther Schmuhl die Sichtweise führender Vertreter der Sozialpädiatrie in einem Redebeitrag beim Fachkongress „Das Elend der Verschickungskinder“ im September 2022 auf den Punkt. Um die so verstandene Gesundung der Kinder voranzutreiben, wurde in dem von Folberth herausgegebenen Buch die Einhaltung eines streng reglementierten Tagesablaufs empfohlen. Auch zur Disziplinierung finden sich hier die geeignet erscheinenden Mittel; Dr. Hans Kleinschmidt, Ärztlicher Direktor des DRK-Kindersolbads Bad Dürrheim, unterbreitete detaillierte Vorschläge zur Bestrafung nach Ordnungsverstößen. Ärztlich empfohlen wurden beispielsweise Entzug von Zuwendung, Isolation, Verächtlichmachen vor den anderen Kindern, Spezial Wundmal – Denkmal Verschickungskinder, Skulptur (Bronzeabguss) von Heike Fischer-Nagel, Bad Sassendorf, Kurpark am Gradierwerk Foto: Dat doris, Creativ-Commons-Lizenz
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