Rheinisches Ärzteblatt / Heft 8 / 2025 23 Forum Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine warnen Experten, dass militärische Konflikte für Europa nicht mehr ausgeschlossen werden können. Deutschland müsse kriegstüchtig werden, erklärte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius im Oktober 2023. Auch die Fähigkeiten des Gesundheitswesens im Umgang mit Krisen, Krieg und Katastrophen müssen nach Ansicht von Fachleuten ausgebaut werden. von Heike Korzilius Ist das deutsche Gesundheitswesen auf unvorhergesehene Entwicklungen und Ereignisse, auf Kriegs- und Krisenfälle vorbereitet? Im Dezember 2024 kam der Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung, das Nachfolgegremium des Corona-Expertenrates, zu dem Schluss, das sei nicht der Fall. Der Rat mahnte in seiner Stellungnahme „Resilienz und Gesundheitssicherheit im Krisen- und Bündnisfall“ unter anderem eine deutlich verbesserte und strukturierte zivil-militärische Zusammenarbeit an, insbesondere zwischen dem Sanitätsdienst der Bundeswehr, zivilen medizinischen Einrichtungen und Hilfsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz. Gesetzgebung vorantreiben Auch die Ärzteschaft befasst sich inzwischen mit dem Thema. In mehreren Beschlüssen forderte der diesjährige 129. Deutsche Ärztetag in Leipzig Ende Mai Bund, Länder und Kommunen auf, die Resilienz des Gesundheitswesens zu stärken. Wie der Expertenrat sieht auch das Ärzteparlament die Notwendigkeit einer engeren zivil-militärischen Zusammenarbeit. Zudem forderte die Ärzteschaft die Bundesregierung auf, die Arbeiten am Gesetz zur Stärkung der Resilienz kritischer Anlagen und am Gesundheitssicherstellungsgesetz wieder aufzunehmen, die beide dem Ampel-Aus zum Opfer gefallen waren. Letzterer Gesetzentwurf sah unter anderem Maßnahmen zur Steuerung von Patienten- und Verwundetenströmen, zur Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie regelmäßige Ernstfallübungen vor. Austausch mit dem Sanitätsdienst Auch die Ärztekammer Nordrhein will den Austausch mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr intensivieren, damit die medizinische Versorgung im Krisenfall auf hohem Niveau funktionsfähig bleibt. Das bekräftigten Präsident und Vizepräsident, Dr. Sven Dreyer und Dr. Arndt Berson, im Rahmen der Julisitzung des Kammervorstandes im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf. Über die Herausforderungen und Aufgaben, die sich aus neuen militärischen Bedrohungslagen unter anderem für den Zivilschutz und die kritische Infrastruktur ergeben, referierten dort Vorstandsmitglied Dr. Joachim Wichmann, Oberstarzt der Reserve, und der stellvertretende Generalarzt der Luftwaffe und Chef des Stabes, Oberstarzt Dr. Jörg Ruff, vom Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln, der als Gast geladen war. Es sei aufwühlend und auch erschreckend, sich mit dem Ziel der Kriegstüchtigkeit zu beschäftigen, räumte Ruff ein. „Aber die Gesellschaft muss die Risiken erkennen, akzeptieren und selbst ins Handeln kommen.“ Denn hybride Angriffe aus Russland in Form von Desinformation, Sabotage oder Cyberattacken seien bereits Realität. Auf ein solches Szenario könne man nur aus einer Position der Stärke heraus reagieren, mahnte Ruff. Sollte der Bündnisfall an der NATO-Ostflanke eintreten, sieht der Oberstarzt enorme Herausforderungen auf Deutschland zukommen. Aufgrund seiner geostrategischen Lage werde es als Auf- und Durchmarschgebiet für die NATO-Truppen dienen mit allen damit einhergehenden Verpflichtungen zur Versorgung von Flüchtlingen und Soldaten. „Bei heftigen Gefechten rechnen wir mit bis zu 1.000 Verwundeten pro Tag“, erklärte Ruff. Da die Sanitätskräfte der Bundeswehr maßgeblich im Rahmen der militärischen Verteidigung, sprich an der Front, gebunden wären, müssten zivile medizinische Einrichtungen die Versorgung von Kranken und Verwundeten im großen Stil unterstützen. Zurzeit arbeite man daran, ein Trauma-Netzwerk aus Bundeswehrkrankenhäusern, Berufsgenossenschaftlichen Kliniken und Universitätskliniken zu etablieren. Ziel sei die Vorhaltung von rund 10.000 Betten. Im Fall der Landes- oder Bündnisverteidigung sei man zudem auf die Unterstützung sämtlicher Reservisten angewiesen. Den genauen Überblick über deren Zahl zu erlangen, sei allerdings problematisch. Denn mit dem Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011 endete die automatische Übermittlung von Adressdaten aus den Einwohnermeldeämtern an die Bundeswehr. Auch den zivilen Einrichtungen fehle eine genaue Übersicht über die Kräfte, die im Ernstfall verfügbar seien, weil viele Ärztinnen und Ärzte, Rettungs- und Pflegekräfte sich in mehreren Hilfs- oder Katastrophenschutzeinrichtungen engagierten. „Das Problem der Mehrfachzählung müssen die Kliniken aktiv angehen“, forderte Ruff. Ärzte in Planungen einbeziehen Die Gesundheitseinrichtungen müssten sich zudem aus eigenen Stücken robuster aufstellen, indem sie beispielsweise Arzneimittelvorräte anlegten oder Redundanzen bei der Strom- und Wasserversorgung aufbauten. An die Ärztekammer appellierte der Oberstarzt: „Es ist wichtig, dass Sie sich Gedanken machen, dass Sie gestalten.“ Die Rolle der Reservisten im Ernstfall betonte auch Dr. Joachim Wichmann, MBA, selbst seit 37 Jahren Reserveoffizier der Bundeswehr. Zugleich verwies er auf das Potenzial der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. „Sie könnten zum Beispiel in den Krankenhäusern Lücken in der Versorgung füllen, wenn Personal eingezogen würde.“ Vor diesem Hintergrund sei es ratsam, auch die ambulanten Praxen in die Strukturplanung einzubeziehen, inklusive ambulanter OP-Zentren. Um im Verteidigungsfall eine hochwertige medizinische Versorgung für alle aufrechterhalten zu können, sei es zudem wichtig, die Ärzteschaft an allen Planungen sowie an den Krisenstäben zu beteiligen, forderte Wichmann. Er betonte zugleich, dass es neben der somatischen Versorgung essenziell sei, die psychischen Folgen im Verteidigungsfall nicht aus den Augen zu verlieren. Notwendig sei deshalb ein Ausbau der Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für die Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen. Resilienz des Gesundheitssystems stärken
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