Rheinisches Ärzteblatt / Heft 10 / 2025 23 Interview scheidungen Abwägungsentscheidungen. Was wir als Ethikrat mit unseren Stellungnahmen leisten wollen, ist die Bereitstellung ethischer Argumente. Das ist das Entscheidende, und die Abwägung dieser Argumente muss die Politik vornehmen. Wir entscheiden nichts. Aber wir haben auch schon aus der Politik die Rückmeldung bekommen, dass gerade dort, wo sich der Ethikrat im Ergebnis nicht einig war, die für die jeweiligen Positionen sauber ausformulierten Argumente im politischen Entscheidungsprozess sehr hilfreich waren. : Im Oktober 2024 haben Sie den Vorsitz beim Deutschen Ethikrat übernommen. Kann man davon ausgehen, dass sich das auch inhaltlich auf die Arbeit des Gremiums auswirkt? Frister: Nein, ich als Vorsitzender oder auch der Vorstand insgesamt bestimmt nicht die Themenauswahl. Als Vorsitzender leite ich die Sitzung, aber die Beschlüsse über die zu bearbeitenden Themen fasst immer das Plenum. Dort hat jedes Mitglied eine Stimme. : Registrieren Sie Veränderungen gegenüber Ihren ersten vier Jahren im Ethikrat? Frister: Die Hauptveränderung ist sicherlich die, dass wir mittlerweile keine Pandemie mehr haben und sich der Ethikrat seine Themen fast ausschließlich wieder selbst setzt. Auch stehen wir mit unserer Arbeit nicht mehr so im Fokus der Öffentlichkeit. In unserem Gremium, dessen Mitglieder je zur Hälfte auf Vorschlag des Bundestages und der Bundesregierung berufen werden, hat sich die fachliche Zusammensetzung ein wenig verschoben. : In welche Richtung? Frister: Wir haben zu meinem Bedauern weniger Fachphilosophen, dafür aber zum ersten Mal Ökonomen im Ethikrat, und wir haben sehr viel sozialwissenschaftliche Expertise dazu bekommen. Beides bereichert unsere Arbeit sehr und könnte dazu beitragen, dass sich unser Themenspektrum ein wenig verschiebt. Laut Ethikratgesetz sind wir in unserer Arbeit auch nicht ausschließlich auf die Lebenswissenschaften beschränkt. : Anfang des Jahres 2025 hat der Deutsche Ethikrat zwei neue Themen für die ersten Stellungnahmen in Ihrer Amtsperiode beschlossen, und zwar „Herausforderungen in der Langzeitpflege“ und „Neurotechnologie als Gamechanger“. Wo sehen Sie hierbei aktuell die Umbrüche, die eine Befassung des Ethikrats erforderlich erscheinen lassen? Frister: Bei der Neurotechnologie, einem bisher eher medizinischen Thema, sieht man aktuell eine starke Tendenz – vorangetrieben durch diverse Startups, aber auch die großen Tech-Konzerne –, diese mehr auf die Alltagsschiene zu bringen. Es ist nicht auszuschließen, dass schon bald über die Nutzung nichtinvasiver Hirn-Computer-Schnittstellen neurotechnologische Hilfsmittel für jeden zur Verfügung stehen werden. So wird beispielsweise an einem Armband gearbeitet, das Nervenimpulse misst, und das man vielleicht zukünftig nutzen kann, um seinen Computer noch perfekter zu steuern. Oder man wird sich möglicherweise neurotechnologischer Verfahren zum Zwecke der Selbstoptimierung bedienen. : Wie wahrscheinlich ist eine solche Entwicklung? Frister: Das mag nach Zukunftsmusik klingen, aber einfachere Gedanken kann man heute schon auslesen. In der Medizin gibt es bereits Anwendungen, bei denen gelähmte Menschen mittels Sensoren eine Maschine steuern können. Das ist noch ein sehr simples Gedankenlesen, aber man weiß ja, wie schnell sich eine Technik entwickeln kann, wenn es sie einmal gibt. Bei der Stellungnahme wird es weniger um die Anwendungen der Neurotechnologie in der Medizin gehen, sondern es soll vor allem erörtert werden, was voraussichtlich geschehen wird, wenn ein Übergang in den alltäglichen Gebrauch stattfindet. : Das andere Schwerpunktthema, das sich der Ethikrat vorgenommen hat, nämlich „Herausforderungen in der Langzeitpflege“, hat dagegen schon einen deutlich konkreteren Bezug zur aktuellen Sozialpolitik. Frister: Der Ethikrat hatte dieses Thema schon länger in der engeren Wahl. Die Ausgestaltung der Pflege ist ein Problem, das viele von uns aufgrund der demografischen Entwicklung betreffen wird und mit dem sich unsere Gesellschaft stärker beschäftigen muss. Es geht zunächst einmal darum, Mindeststandards für eine gute Pflege zu definieren, aber auch um den Aspekt der Wertschätzung der Pflege und der Pflegenden. Das Problem der Finanzierung einer guten Pflege kann natürlich nicht außen vor bleiben. Grundsätzlich wird es aber um die Frage gehen, ob die Pflege weiterhin als eine primär familiäre oder aber als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzusehen ist. Angesichts der Geburtenrate und sich wandelnder Familienstrukturen gerät ein Modell, das wie gewohnt unter der sozialrechtlich verankerten Prämisse der Subsidiarität zunächst auf die Pflege in der Familie – und hier insbesondere durch die nichtberufstätige Frau – setzt, durch die Wirklichkeit zunehmend unter Druck. : Da bleibt zu hoffen, dass die Politik bei einer Gesetzgebung zur Reform der Pflege die ethischen Argumente in der Stellungnahme des Ethikrats berücksichtigen wird. Haben Sie – über die bereits angesprochenen Themen hinaus – noch eine persönliche Agenda für die verbleibenden drei Jahre Ihrer Amtszeit? Frister: Was bei den bisherigen Themen nicht so recht abgebildet wird, ist der Aspekt der Generationengerechtigkeit. Nach meiner Einschätzung führt die demografische Entwicklung nicht allein zu Finanzproblemen in der Renten- und Krankenversicherung, sondern auch zu einem grundsätzlichen Problem des demokratischen Systems, weil sich das Handeln der Parteien an der Mehrheit der alten Wählerinnen und Wähler orientiert. Die Beschlüsse der Bundesregierung zur Sicherung der Rente haben dies ja gerade noch gezeigt. Wir wollen im Herbst 2026 eine Schülertagung organisieren, bei der wir uns mit Schülergruppen darüber austauschen wollen, wie sie sich eine künftige Gesellschaft gerade auch mit Blick auf den Klimawandel und die Generationengerechtigkeit vorstellen. Wie sehen deren Lebensentwürfe aus? Zusammen mit den Schülern wollen wir offen an das Thema herangehen. Das Ganze braucht einen gewissen Vorlauf, weil sich Schüler und Lehrer zuvor in den Schulen mit dem Thema auseinandersetzen sollen. Mit dem Format der Schülertagung haben wir bereits im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gute Erfahrungen gemacht, als uns Schülergruppen vorgestellt haben, wie sie die Pandemie erlebt haben. Das hat uns ein wenig die Augen geöffnet. Daraus ist damals eine kurze Stellungnahme zu den psychischen Folgen der Pandemie geworden, und möglicherweise gelingt mit der kommenden Schülertagung zur Generationengerechtigkeit etwas Ähnliches. Das Interview führte Thomas Gerst.
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