24 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 11 / 2025 Forum Hormonelle, physiologische und metabolische Unterschiede zwischen den Geschlechtern müssen Experten zufolge in Diagnostik und Therapie stärker berücksichtigt werden, um Fehlbehandlungen zu vermeiden. Darüber hinaus gelte es, für bessere Behandlungsergebnisse auch soziale Stereotype zu hinterfragen. Die Länder setzen sich aktuell dafür ein, die Ärztliche Approbationsordnung um Inhalte der geschlechtersensiblen Medizin zu erweitern. von Heike Korzilius Frauen haben häufiger chronische Rückenschmerzen als Männer, erhalten aber später und weniger Analgetika. Frauen sterben häufiger an Herzkreislauferkrankungen und weisen oft andere Symptome auf als Männer. Frauen zeigen oft stärkere Immunreaktionen. In der Folge leiden sie häufiger an Autoimmunerkrankungen und Impfnebenwirkungen. Frauen verstoffwechseln aufgrund ihrer genetischen und hormonellen Ausstattung viele Medikamente anders als Männer. Anhand von Beispielen aus Schmerztherapie, Kardiologie, Immunologie und Pharmakotherapie erläuterten Expertinnen und Experten am 19. September im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft, wie bedeutsam geschlechtsabhängige Unterschiede für die medizinische Versorgung sind. Es gibt viele Forschungslücken Neben dem Wissen über die rein biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern sei es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte sich soziale Stereotype bewusst machten, forderte Allgemeinarzt Professor Dr. Achim Mortsiefer von der Universität Witten/ Herdecke. Beispiel chronische Rückenschmerzen: Bei Frauen werde Schmerz – auch in Medizin und Forschung – häufiger als „psychisch“ interpretiert als bei Männern. Das wirke sich auf die Wahl der Therapie aus. Dabei beeinflussten auch hormonelle Faktoren Schmerzempfindlichkeit, Bindegewebe und Muskeltonus. Dazu kämen Risikofaktoren wie Schwangerschaft und Geburt. Psychische Komorbiditäten wie Depression, Angst oder Stress durch die Doppelbelastung in Beruf und Haushalt erhöhten das Chronifizierungsrisiko, sagte Mortsiefer. Ganz generell seien Frauen mit chronischen Schmerzen sichtbarer, weil sie häufiger Ärzte aufsuchten. „Sind Männer im Vergleich unterversorgt? Wir wissen es nicht“, verwies der Allgemeinarzt auf Forschungslücken. Sie beschäftige sich seit 25 Jahren mit geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Arzneimitteltherapie, und noch immer seien Informationen darüber nicht flächendeckend verfügbar, kritisierte die Pharmakologin Professorin Dr. Petra Thürmann (Universität Witten/Herdecke). Unterschiede seien nachgewiesen für die Aufnahme, Verteilung, Metabolisierung und Ausscheidung von Arzneistoffen. Ursächlich dafür seien Unterschiede im Körpergewicht, in Organgrößen sowie in der Ausstattung mit Enzymen und Transportern in Darmwand, Leber und Niere. Aufgrund geschlechtsspezifischer Unterschiede empfehle zum Beispiel die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA Frauen, Zolpidem, eines der am häufigsten verordneten Schlafmittel, nur noch in halber Dosis einzunehmen. Erhielten diese dieselbe Dosis wie Männer, litten sie häufiger unter Nebenwirkungen, und es komme vermehrt zu Stürzen. Die europäische Zulassungsbehörde EMA differenziere in ihrer Dosisempfehlung trotz gleicher Datenlage nicht nach Geschlecht, sagte Thürmann. Dabei profitierten Frauen und Männer gleichermaßen von einer geschlechtsspezifischen Betrachtung. „Die Unterschiede der Geschlechter müssen in Diagnostik und Therapie stärker berücksichtigt werden“, forderte Gerhard Herrmann, zuständiger Abteilungsleiter im NRW-Gesundheitsministerium, das die Veranstaltung gemeinsam mit den beiden Ärztekammern des Landes und dem Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) ausrichtete. Die Ärztinnen und Ärzte müssten für eine geschlechterspezifische Gesundheitsversorgung sensibilisiert werden, möglichst schon im Rahmen der ärztlichen Ausbildung. Diese Forderung hatte im Frühsommer auch die Gesundheitsministerkonferenz der Länder erhoben. Sie hatte das Bundesgesundheitsministerium gebeten, die Ärztliche Approbationsordnung um Aspekte der geschlechtersensiblen Medizin zu erweitern und diese Inhalte auch zum Prüfungsstoff zu machen. Zugleich solle das Ministerium prüfen, ob auch die Approbationsordnungen der anderen Heilberufe geschlechterspezifische Aspekte ausreichend berücksichtigten. Auch in den Berufsgesetzen der Gesundheitsfachberufe sollten entsprechende Inhalte verankert werden. Eigene Vorurteile hinterfragen Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Dr. Sven Dreyer, unterstützte diese Forderung und warb ebenfalls für mehr Sensibilität. Es gelte, eigene Vorurteile oder vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen. So unterschieden sich beispielsweise die Symptome von Herzinfarkt und Migräne bei Frauen und Männern zum Teil erheblich, was zu Behandlungsverzögerungen oder sogar Fehlbehandlungen führen könne, wenn sich Ärztinnen und Ärzte dessen nicht bewusst seien. Viele geschlechtsspezifische Unterschiede seien noch nicht gänzlich verstanden, weshalb es größerer Forschungsanstrengungen bedürfe. Die Forschungslandschaft in NRW sieht Dreyer hier unter anderem mit gendermedizinischen Schwerpunkten an den Universitäten Bielefeld, Witten/ Herdecke und Duisburg-Essen gut aufgestellt. Auf der Theorieebene diskutiere man über Gendermedizin seit 45 Jahren, erklärte der Präsident der Ärztekammer WestfalenLippe, Dr. Hans-Albert Gehle. Schon 1980 habe die amerikanische Forschung auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Kardiologie hingewiesen. „Aber wie ist unser eigenes Handeln? Was tun wir gegen unseren eigenen Bias, der schlimmstenfalls zu falschen Entscheidungen führt?“, fragte Gehle. Im medizinischen Alltag und in der Versorgungspraxis seien viele der theoretischen Erkenntnisse noch nicht angekommen. „Frauen sind keine zehn Kilo leichteren Männer“, brachte Pharmakologin Thürmann die vielerorts noch bestehende Sichtweise auf den Punkt. „Frauen sind keine zehn Kilo leichteren Männer“ Bild: polesnoyw/istockphoto.com
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