Rheinisches Ärzteblatt 12/2024

34 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 12 / 2024 Die Kehlkopfversorgung ist dringlich nötig und unumgänglich. Zurzeit wird die Versorgung durch eine Kryotherapie, Lasertherapie oder ein Tracheostoma im Hinblick auf eine erneute Blasenbildung an den Atemwegen diskutiert. Da jede Berührung (zum Beispiel Intubation) der Schleimhäute zu Verletzungen und Entzündungsprozessen führt, hält das Team eine einzeitige Intervention zur Behandlung von Kehlkopf und Blase für geboten. Eltern wollen zunächst nur Eingriff am Kehlkopf Bereits in den Vorgesprächen hatten die Eltern dem Behandlungsteam mitgeteilt, dass sie eine große Operation ablehnten, weil sie Angst davor hätten, dass der Junge die Operation nicht überleben, keine Zeugungsfähigkeit mehr bestehen und der Urinbeutel vom Körper nicht angenommen würde. Die Mutter schlägt vor, die Harnleiter nach außen abzuleiten und die Blase zu belassen. Ihr wird darauf mitgeteilt, dass die Nephrostomie bei dem Kind in Schweden ohne Effekt war und zudem eine „trockene“ Blase dann schnell funktionsuntüchtig sei und außerdem eine weitere Entzündungs- und Infektquelle darstelle. Es wird erläutert, dass die Erektion ein Trigger für Schmerzen sei und man nur ohne Schmerzen eine Erektion haben könne. Es wird darauf hingewiesen, dass auch aktuell schon die Samenkanälchen verklebt sein dürften, also bereits jetzt eine Unfruchtbarkeit bestehen könnte. Die Asservierung von Samen vor einem Eingriff wird thematisiert. Die Eltern wünschen zunächst nur die Versorgung des Kehlkopfes. Der Junge solle sich danach erholen, könne dann besser atmen und gegebenenfalls auch essen. Ethische Fragestellung und Diskussion Es stellt sich also die Frage, ob die Entfernung der Blase als mutilierender Eingriff ethisch vertretbar ist. Denn damit besteht keine Chance mehr, den Urin via naturalis abzugeben, und dieser Eingriff geht mit einer möglichen Funktionsstörung der Erektionsfähigkeit und einem wahrscheinlichen Verlust der Fruchtbarkeit einher. Zudem muss berücksichtigt werden, dass eine sehr hohe Komplikationsrate unter der Forum Operation mit einer Mortalitätsrate von circa 50 Prozent angenommen wird. Das Behandlungsteam möchte sich deshalb vor der Entscheidung ethisch beraten lassen. In der ethischen Fallbesprechung wird mehrfach betont, dass es sich definitiv um eine palliative Situation handelt. Ziel sei die Schmerzreduktion und die Steigerung der Lebensqualität. Die Krankheit ist nicht heilbar. Die Zystektomie sollte erfolgen, da bei externem Ableiten des Urins die Blase rasch schrumpft und nicht mehr erweiterbar ist. Auch sei die Blase weiterhin Ursache für heftigste Schmerzen, da sich der Sphinkter der Blase bei der Defäkation ebenfalls öffnet und durch den Urinabgang Schmerzen auftreten; zudem stellt die Blase selbst noch einen Entzündungsherd dar. Empyembildung in dem Blasenresiduum sei möglich. Der Zusammenhang zwischen der Defäkation und den Schmerzen führt möglicherweise dazu, dass die Nahrungsaufnahme eingeschränkt ist. Durch die geplante Operation an den Atemwegen und eine verminderte Atemarbeit könnte die Kalorienbilanz verbessert und die Kachexie überwunden werden. Erektionsstörung: Die Kinderurologie geht davon aus, dass eine Erektionsstörung aufgrund der Zystektomie eher unwahrscheinlich ist. Bei weiterhin stärksten Schmerzen ist aufgrund der Innervation von Blase und Penis eine Erektion physiologisch nicht möglich. Fruchtbarkeit: Bei weiterhin bestehenden Entzündungen im unteren Bauchraum ist es wahrscheinlich, dass die Fruchtbarkeit auch ohne operativen Eingriff in naher Zukunft eingeschränkt sein wird. Es wird diskutiert, Samen zu gewinnen und einzufrieren. Dies ist aber im präpubertären Alter nur durch eine Gewebeentnahme an speziellen Zentren möglich und mit Risiken der Narkose verbunden. Die Lebenserwartung des Kindes kann nicht abgeschätzt werden, da der genetische Befund nicht eindeutig zu dem klinischen Befund passt und deshalb auf der Grundlage der wenigen Fälle weltweit eine Prognose extrem unsicher ist. Insgesamt wird die Lebenserwartung jedoch als eingeschränkt angesehen. Bei der Fallbesprechung wird betont, dass es sich um einen palliativen Eingriff handelt. Eine hohe Lebenserwartung ist unwahrscheinlich. So ist zu erwägen, was dem Neunjährigen angeboten werden kann, um die Schmerzen zu lindern. Auch wird darauf hingewiesen, dass, selbst wenn die Zystektomie zum jetzigen Zeitpunkt nicht erfolgt, in den nächsten sechs Monaten wahrscheinlich eine Revision des Urostomas ansteht. Auch diese Revision geht mit einem deutlich erhöhten Mortalitätsrisikos des Kindes einher. Alternative Schmerztherapien wie zum Beispiel ein Periduralkatheter oder eine entzündungshemmende Medikation wurden diskutiert und als nicht zielführend verworfen. Die potenziellen Komplikationen der Operation – erektile Dysfunktion und Zeugungsunfähigkeit – haben die Eltern sehr beschäftigt. Es besteht insbesondere bei der Mutter die Sorge, dass der Junge sie bei einer Entscheidung im Fall nachfolgender Komplikationen verantwortlich machen wird. Votum für das weitere therapeutische Vorgehen Das Ethikkomitee sieht die Entfernung der Blase als mutilierenden Eingriff aufgrund der Gesundheitssituation des Jungen als ethisch vertretbar an. Die Zystektomie ist ethisch gerechtfertigt aufgrund der potenziellen Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität. Darüber hinaus ist die Fruchtbarkeit des Jungen aufgrund der Grunderkrankung auch ohne diesen Eingriff überaus fraglich. Der Erhalt der Erektionsfähigkeit ist ein Scheinziel, da auch die Schmerzen eine Erektion verhindern würden. Das Ethikkomitee empfiehlt, das Zeitfenster mit den Eltern zu diskutieren. Am Ende werden die Eltern über den Eingriff entscheiden. Die Eltern haben in der Zwischenzeit dem Eingriff am Kehlkopf zugestimmt. Inzwischen konnte eine Klinik in der Schweiz gefunden werden, die bereit ist, den Eingriff vorzunehmen. Der Verlauf bleibt abzuwarten. Dr. Thomas Zeile, Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Geriatrie, Physikalische Therapie und Balneologie, Klinik für Innere Medizin, Geriatrie und Frührehabilitation, Helios Marien Klinik Duisburg Dr. Guido Wolf, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Sozialpädiatrisches Zentrum/ Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Helios St. Anna Klinik Duisburg Lina Igel, Fachärztin für Kinderheilkunde, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Helios St. Johannes Klinik Duisburg

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