Leitfaden Kommunikation

23 Grundlagen der Kommunikation Ärztekammer Nordrhein 22 Gerade in der Grundversorgung sind z. B. Gefühle einer inneren Unruhe bei der Fachperson in der initialen Beurteilung eines Falles oft handlungsleitend (z. B.: „Dieses Kind ist krank und sollte ins Krankenhaus!“). Auch der Eindruck von „Jetzt ist genug gesagt“, der sich in einem Aufklärungsgespräch zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin nach einer bestimmten Zeit einstellt, ist ein solches Phänomen, da diese Aussage nicht auf statistischer Evidenz beruht in dem Sinne, dass der Patient / die Patientin wüsste, wie viel % des Wissens des Arztes / der Ärztin jetzt mitgeteilt wurde, sondern auf einem gespürten „Es ist gut jetzt“. Die Fachperson kann die Wahrnehmungen am eigenen Leib auch als therapeutisches Instrument benutzen, wenn sie dem Gegenüber mitteilt, wie ihr zumute wird (z. B.: „Wenn Sie diese Geschichte erzählen, weht mich eine große Traurigkeit an.“). Sie stellt das Erleben am eigenen Leib als eine mögliche Interpretation der aktuellen Situation zur Verfügung und hilft dem Gegenüber dabei, in Worten zu explizieren, was noch nicht gesagt, aber vielleicht schon vage gespürt wurde. Literatur Argyle M.: Körpersprache und Kommunikation. Junfermann, Paderborn 2005. Ekman P.: Gefühle lesen – Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum Akademischer Verlag, München 2004. Heringer H. J.: Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Francke, Tübingen und Basel 2010. Gillessen A. et al. (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation in der Medizin. Springer Verlag Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-66259012-6. Smith CF, Drew S, Ziebland S, Nicholson BD. Understanding the role of GPs' gut feelings in diagnosing cancer in primary care: a systematic review and meta-analysis of existing evidence. Br J Gen Pract. 2020 Aug 27;70(698):e612-e621. doi: 10.3399/bjgp20X712301. PMID: 32839162; PMCID: PMC7449376. Langewitz WA. The lived body (Der Leib) as a diagnostic and therapeutic instrument in general practice. Wien Klin Wochenschr. 2021 Jul 23. doi: 10.1007/s00508-021-01911-1. PMID: 34297201. Gramling C. J., Durieux B. N., Clarfeld L. A., Javed A., Matt J. E., Manukyan V., ... & Gramling, R. (2022): Epidemiology of Connectional Silence in specialist serious illness conversations. Patient Education and Counseling, 105(7), 2005–2011. 1.6. Gespräche in Zeiten der Telemedizin Gerade die Coronapandemie hat gezeigt, dass Kontakte nicht nur in der Face-to-Face-Begegnung in Präsenz stattfinden müssen, sondern auch über das Internet vermittelt stattfinden können. Damit hat eine Entwicklung zusätzlichen Schub erhalten, die in anderen Ländern, z. B. in Großbritannien, schon länger stattgefunden hat: Erstkontakte im Gesundheitswesen werden über das Telefon oder über Live-Video-Schaltungen abgewickelt, u. U. in der Interaktion mit einem Computerprogramm, das aus den geschilderten Beschwerden die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose berechnet und darüber entscheidet, ob eine hilfesuchende Person mit einem lebenden Gegenüber verbunden wird oder nicht. Selbstverständlich lässt sich argumentieren, Grundlagen der Kommunikation Ärztekammer Nordrhein dass Fachpersonen (auch) wie Computerprogramme funktionieren, indem sie Beschwerdebilder mit impliziten (der ‚klinische Blick‘) oder feststehenden Algorithmen beurteilen – die meisten Notfallstationen verfahren so, um über die Notwendigkeit von Diagnostik und Therapie zu entscheiden. Allerdings bietet der persönliche Kontakt mehr als das Abrufen von Beschwerden: das Leiden der Person, ihre Angst, ihre Verzweiflung sind ‚spürbar‘, auch ohne dass sie explizit ausgedrückt werden. Dieses Ausblenden der emotionalen Komponente kann diagnostisch durchaus sinnvoll sein, wenn z. B. in einer Triage-Situation nicht der zuerst behandelt wird, der am lautesten stöhnt, sondern der, dessen Vitalparameter einen deutlichen Abwärtstrend zeigen. Allerdings kann das Ausblenden von Emotionen auch dazu führen, dass ein tröstender Impuls, eine beruhigende Geste ausbleiben – man muss ein Symptom nicht besänftigen, manchmal aber den Menschen, der es präsentiert. Ein Mittelding zwischen Mensch-Maschine- und Mensch-Mensch-Interaktionen sind die LiveTreffen über entsprechende Programme, bei denen sich beide Interagierenden sehen und hören, sich aber nicht im gleichen physischen Raum befinden. Es ist wahrscheinlich noch zu früh, eindeutige Aussagen zu den Auswirkungen dieser Form der ‚Distanz in der Nähe‘ zu treffen, folgende Überlegungen könnten aber hilfreich sein: Der Fokus auf den Bildschirm und/oder auf die Kamera, die das eigene Bild aufnimmt, verhindert spontanes Abschweifen der Gedanken und des Blicks, Korrekturbewegungen in der Haltung stellen sich nicht spontan ein, sondern werden – wenn überhaupt – bewusst abgerufen. Eine erste Studie zeigt, dass dieses Einengen des Fokus einerseits die Fähigkeit von Teams verbessert, unter vorhandenen Ideen die beste zu finden, dass andererseits persönliche Treffen besser geeignet sind, kreative Ideen zu generieren. Vorstellbar ist auch, dass die unter 1.5. beschriebene Wahrnehmung von Atmosphären im Raum dadurch behindert wird, dass sich die beteiligten Personen eben in physisch unterschiedlichen Räumen befinden – kann sich eine prägende Atmosphäre überhaupt ausbilden? Zumindest indirekt gibt es vielleicht Hinweise darauf, dass eine lähmende Atmosphäre seltener entsteht: Studierende und Simulationspersonen beschreiben die Gespräche über Live-Kontakte im Netz als entspannter als Live-Gespräche in einem Lernzentrum – vielleicht weil die angespannte Atmosphäre in einer Gruppe, in der die anderen zuschauen, wie jemand sich verhält, sich nicht einstellen kann? Literatur Melanie Brucks and Jonathan Levav (2019): Technology-Mediated Innovation, in NA – Advances in Consumer Research Volume 47, eds. Rajesh Bagchi, Lauren Block, and Leonard Lee, Duluth, MN: Association for Consumer Research, Pages: 45–50. Langewitz et al.: Doctor-patient-communication during the Corona-Crisis – web-based interactions and structured feedback from standardized patients at the University of Basel and the LMU Munich. GMS J Med Educ. 2021; 38(4):Doc80. DOI: 10.3205/zma001477.

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