44 Ärztekammer Nordrhein Heranführen an spezifische Gesprächssituationen 45 Ein besonderes Problem ergibt sich bei kontinuierlichen Kontakten bei Hausärztinnen und Hausärzten oder bei Visiten bei längerem stationärem Aufenthalt, weil Ärztinnen und Ärzte da- zu neigen anzunehmen, sie wüssten, was sie bei einer Patientin oder einem Patienten erwarten können. Es wäre hilfreich, jedes Gespräch, in dem beispielsweise neue Befunde besprochen werden, wie ein Erstgespräch anzusehen, sodass sich die zu behandelnde Person von einer bisher nicht gekannten Seite zeigen kann – wenn sie denn die Möglichkeit dazu erhält und nicht innerhalb weniger Sekunden von der ärztlichen Fachperson daran gehindert wird. 3.2. Anamneseerhebung Das nachfolgende Schema gilt in Situationen, in denen mindestens 15 Minuten für das Erheben einer Anamnese zur Verfügung stehen. Wenn dies nicht gewährleistet ist oder ein akutes Krankheitsbild vorliegt, gilt die Beschränkung auf „Jetziges Leiden“ und „Spezielle Anamnese“; ausgewählte Fragen zur Eigenanamnese oder zur Systemanamnese sind dann indiziert, wenn sie die Diagnostik oder die Notfalltherapie beeinflussen könnten (z. B. Allergien, Unverträglichkeiten, aktuelle Medikation). Um die einzelnen Abschnitte einer typischen Anamnese zu charakterisieren, findet sich am Anfang jeweils eine Frage, die unter dem betreffenden Titel beantwortet wird. Jetziges Leiden Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Frage: Warum kommt der Patient / die Patientin jetzt zum Arzt / zur Ärztin? Wenn das Problem unmittelbar ersichtlich ist (z. B. blutende Wunde, akute Luftnot etc.), erübrigt sich u. U. eine ausführliche Anamnese zum jetzigen Leiden. In allen anderen Fällen lassen sich die kommunikationstechnischen ärztlichen Aufgaben bei der Erhebung des jetzigen Leidens in solche unterscheiden, die den Gesprächsraum für Patientinnen und Patienten eröffnen, und solche, die den Freiraum einschränken, indem der Arzt oder die Ärztin eindeutig die Gesprächsführung übernimmt. Diese Techniken sind im Folgenden noch einmal zusammengestellt (s. auch Kap. 2.1. & 2.2.). Freiraum schaffen für Patientinnen und Patienten • Gesprächstechniken einsetzen, die Patientinnen und Patienten den Raum verschaffen, ihre Probleme ausreichend deutlich darzustellen: Warten, Wiederholen • Mit Spiegeln, Zusammenfassen und Benennen von Emotionen den Patientinnen und Patienten zeigen beziehungsweise sicherstellen, dass ihre Ausführungen gehört und korrekt verstanden werden Heranführen an spezifische Gesprächssituationen Ärztekammer Nordrhein 3. Heranführen an spezifische Gesprächssituationen 3.1. Erstgespräch Der erste Kontakt mit einem anderen Menschen birgt die große Chance, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Mit diesem Begriff ist das umfassende und im Einzelnen nicht zu erklärende Phänomen angesprochen, dass wir oft einen eindeutigen Eindruck vom Gegenüber haben, der weit über das hinaus geht, was wir an einzelnen Fakten von ihm wissen. Ein typisches klinisches Anwendungsbeispiel wird vor allem pädiatrischen Fachkräften vertraut sein: Dass ein Kind krank ist, kann spürbar sein, ohne dass sich dieser Eindruck so einfach wie in der Erwachsenenmedizin mit einem Laborbefund oder einem bildgebenden Verfahren verifizieren ließe. In der tiefenpsychologischen Psychotherapie wird diesem ersten Eindruck große diagnostische Bedeutung beigemessen: Es gilt, dass im ersten Eindruck atmosphärisch und szenisch wie in der Ouvertüre eines Musikstücks bereits im Kleinen alle wichtigen Themen des Patienten / der Patientin dargestellt sind. Hierfür ist es aber notwendig, dass sich dieser erste Eindruck entfalten kann und dem Patienten / der Patientin zu Beginn des Gesprächs möglichst viel Raum gegeben wird. Im idealtypischen Erstgespräch lassen sich zwei grundlegend verschiedene Modi unterscheiden: • Phasen, in denen Ärztinnen und Ärzte nicht wissen, worum es geht, in denen sie keine Hypothesen zur Art des Problems formulieren können, geschweige denn zur weiterführenden Diagnostik • Phasen, in denen sie Hypothesen haben, die sie durch gezieltes Explorieren überprüfen Um Hypothesen zu generieren, sind gezielte Fragen sinnlos, denn das Ziel ist nicht bekannt. Hier ist es angebracht, dem Patienten / der Patientin einen Erzählraum zu öffnen, zum Beispiel mit der unter 2.2. beschriebenen Technik WWSZ. Um Hypothesen zu überprüfen, sind gezielte Fragen geeignet, die der Präzision oder Unschärfe der Arbeitshypothese angemessen sein sollten. Beispiele: • Die Frage „Haben Sie in letzter Zeit vermehrt Probleme beim Atmen gehabt?“ zielt eher auf eine sich verschlechternde Herz- oder Lungenfunktion. • Die Frage „Haben Sie denn die Wassertabletten in letzter Zeit nicht mehr so regelmäßig genommen?“ zielt punktgenau auf vermutete Probleme mit der Therapietreue.
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