59 Die alten Kommunikationsregeln kommen aus einer Zeit, in der ein patriarchaler Beziehungsstil die Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin geprägt hat und das Wissen über die Verläufe der meisten Erkrankungen deutlich geringer war, als das heute der Fall ist. Außerdem sind durch die Entwicklung der Palliativmedizin Versorgungsstrukturen entstanden, in denen Patientinnen und Patienten durchaus bis zum Lebensende eine relativ hohe Lebensqualität erleben können, allerdings nur, wenn ein absehbares Versterben zuvor offen kommuniziert werden konnte. Der-Frage-Antwort-Modus Ärztliche Kommunikation mit Patientinnen und Patienten ist in der Regel dadurch geprägt, dass die Betroffenen Fragen stellen und Ärztinnen oder Ärzte diese beantworten. Für das Gespräch über Tod und Sterben ist es wichtig, zunächst aus diesem Modus auszusteigen. Denn selbst die Frage „Wie lange habe ich noch?“ ist in erster Linie eine Bitte, in diesen Themenkomplex einzusteigen und zunächst zu eruieren, ob eine Antwort auf die Frage sinnvoll und möglich ist. Es ist nicht ratsam, diese Frage sofort zu beantworten, ohne den Hintergrund zu verstehen. Somit macht es Sinn, in die Gedankenwelt der Patientin oder des Patienten einzusteigen: „Gibt es einen konkreten Grund/Anlass, dass Sie danach fragen, oder ist es mehr eine ganz allgemeine Frage?“ „Was genau möchten Sie wissen? Was steckt hinter Ihrer Frage?“ „Was denken Sie selbst zum weiteren Verlauf Ihrer Erkrankung? Haben Sie spezielle Sorgen? Wovor haben Sie Angst?“ Diese Fragen geben Einblick in die subjektive Krankheitssicht und Prognoseeinschätzung der betroffenen Person und häufig auch in ihre Gedankenwelt und Lebensrealität. Relativ bald erschließt sich dann im weiteren Gespräch, ob es in der Ausgangsfrage der Patientin bzw. des Patienten wirklich um eine konkrete Zeiteinschätzung ging oder um ganz andere Inhalte. Außerdem lässt sich so in Erfahrung bringen, wie detailliert die zeitliche Einschätzung sein muss, um für die betroffene Person hilfreich zu sein. Manchmal geht es bei der Frage nach der Prognose tatsächlich um eine ganz konkrete Grundlage für wichtige soziale, finanzielle oder persönliche Entscheidungen. Es kann sich dabei z. B. um die anstehende Hochzeit des Sohnes handeln, die je nach weiterem Krankheitsverlauf terminiert werden soll, damit der Patient noch anwesend sein kann, oder auch um die Nachlassregelungen, die Regelung von Sorgerecht für minderjährige Kinder etc. Heranführen an spezifische Gesprächssituationen Ärztekammer Nordrhein 58 Ärzten aber nicht darüber, sondern ausschließlich über Heilungschancen und Behandlungsmöglichkeiten gesprochen. Patientinnen und Patienten registrieren sehr genau, ob ihr Gegenüber prinzipiell bereit ist, über Tod und Sterben zu sprechen, oder dieses Thema ebenfalls tabuisiert. Andererseits gibt es auch Situationen, in denen vonseiten der Ärztinnen und Ärzte der Eindruck besteht, dass es für die weitere Behandlung und Zusammenarbeit erforderlich ist, u. a. auch über die Prognose zu sprechen und damit auch über ein mögliches Versterben. Dies kommt insbesondere vor, wenn es um Therapiebegrenzung geht oder Ärztinnen bzw. Ärzte und Patientinnen bzw. Patienten eine sehr unterschiedliche Vorstellung über den weiteren Verlauf der Erkrankung haben. Unabhängig davon, ob Patientinnen und Patienten indirekte Andeutungen machen, direkte Fragen zum weiteren Verlauf stellen oder Ärztinnen und Ärzte das Gefühl haben, ein Gespräch über Tod und Sterben wäre erforderlich, immer sollte zunächst ein Einvernehmen hergestellt werden, ob über das Thema gesprochen werden darf. Eine gute Formulierung zum Einstieg in das Thema könnte sein: „Würden Sie gerne mit mir über den weiteren Verlauf Ihrer Krankheit, die Prognose und eventuell auch über die Themen Tod und Sterben sprechen?“ Diese Frage erfüllt drei Funktionen. Zum einen wird das Thema direkt benannt, aus der Grauzone herausgeholt, zum anderen wird ein Einverständnis mit der Patientin oder dem Pa- tienten hergestellt, ob in dieser Konstellation und zu diesem Zeitpunkt darüber gesprochen werden darf. Unabhängig davon, ob die Patientin oder der Patient zu diesem Zeitpunkt das Gespräch annimmt, erfolgt ein Angebot, als potenzielles Gegenüber für Gespräche zu diesen Themen zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus besteht auf diese Weise die Möglichkeit, zwar das Thema zu benennen, andererseits aber auch so etwas zu sagen wie: „Ich würde mich sehr gerne mit Ihnen über diese Themen unterhalten, aber möchte dazu einen neuen Termin mit Ihnen vereinbaren, um etwas mehr Zeit zu haben.“ Alte Kommunikationsregeln Viele Ärztinnen und Ärzte haben in ihrer Aus- und Weiterbildung gelernt, dass man • Patientinnen und Patienten niemals die Hoffnung nehmen darf, • Patientinnen und Patienten nur erläutern soll, wonach sie konkret gefragt haben, • Patientinnen und Patienten keinerlei Zeitangaben machen soll. Heranführen an spezifische Gesprächssituationen Ärztekammer Nordrhein
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