Rheinisches Ärzteblatt 3/2023

40 Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 / 2023 Kulturspiegel Das Stück „Der Haken“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz thematisiert den Horror der Wohnungssuche in den Großstädten der Gegenwart. Das Theater Bonn zeigt das Stück als Uraufführung. von Jürgen Brenn In Zeiten von Wohnungsmangel gibt es kaum etwas, das Wohnungssuchende mehr erniedrigt als das InteressentenCasting.Wenn sichauf eineWohnungsanzeige hunderte Bewerber melden, fällt die Auswahl schwer und die Ansprüche werden von den Vermietern ebenso wie die Monatsmiete rücksichtslos nach oben geschraubt. Schufa-Auskunft, Bürgschaften undEinkommensnachweise der letztendrei Monate sindmittlerweile Standardabfragen in Großstädten. Wenn sich Studierende um eine Bleibe bemühen, müssen die Eltern bezüglich ihres Einkommens gegenüber dem Vermieter die Hosen herunterlassen, damit der Nachwuchs zu überteuertemMietzins einenVerschlag von zehnQuadratmetern ergattert, in dem die Heizung nicht heizt und wochenlang der Warmwasserboiler nicht repariert wird, sich der Wohnungseigentümer aber gleichzeitig das Recht herausnimmt, Besuchszeiten und -häufigkeit vorzugeben. Das hoch aktuelle Stück „Der Haken“ des Autorenduos Lutz Hübner und Sarah Nemitz thematisiert die derzeit prekäre Wohnungssituation. Roland Riebeling inszeniert die Uraufführung am Bonner Schauspielhaus in Bad Godesberg. Die Zuschauer werden Zeugen eines Mieter-Castings. ImAngebot ist eine attraktive 80-Quadratmeter-Altbauwohnung in bester Lage. Außer, dass hin und wieder der Küchenhängeschrank aus seiner Halterung fällt, ist an derWohnung nichts auszusetzen. Der Neffe desWohnungseigentümers, Martin Brockes, herrlich unsicher gespielt vonTimoKählert, hat sich die Interessenten in kleine Gruppen eingeteilt, die jeweils eine Stunde Zeit haben, die Wohnung zu besichtigenund ihreBewerbungenabzuliefern. Auch hat Brockes so die Möglichkeit, sich die potenziellen Mieter näher anzusehen und Einzelinterviews zu führen. Die Gruppe der Interessenten könnte unterschiedlicher nicht sein: Elke Özdamar, gespielt von Birte Schrein, ist eine taffe Geschäftsfraumit Elektroladen in der Nähe, die für ihre Tochter eineWohnung sucht. Sie tritt selbstsicher bis arrogant auf und erklärt Brockes gerne, wie er seine Auswahl zu treffen habe. Hanna und Jan Mierau sind ein Ehepaar, das allerdings in Scheidung lebt und sich mangels Alternative während des Trennungsjahres weiterhin eine Wohnung teilen muss. „Ich bin hier ja nur der Fahrer“, stellt Jan immer wieder fest. Daniel Stock gibt den Noch-Ehemann als lauten, nervigen Besserwisser, der seiner Noch-Gattin Hanna, gespielt vonLydia Stäubli, immer wieder Grund zum Fremdschämen gibt. Markus J. Bachmann spielt den vermögenden Hipster Peer Bechtolf, der die Wohnung nicht mieten, sonderndirekt kaufenmöchte. Auchdie zwei jungen Frauen Berenice Vendel, gespielt von Julia Kathinka Philippi, und SinaHindelang, gespielt von Annika Schilling, zeigen Interesse an derWohnung, obwohl sie sichwenig Hoffnung machen angesichts der anwesenden Konkurrenz. Denn Vendel arbeitet als Pflegerin und Hindelang ist Studentin, die mehr als empfindlich auf die Frage von Brockes reagiert, ob die beiden ein Paar seien. Aber nicht nur den zwei Frauen stellt der schüchterne Neffe des Wohnungseigentümers seltsame Fragen. Er interessiert sich weniger für das Einkommen oder die Beweggründe, warum die Herrschaften die Wohnung mieten möchten, obwohl sich die einzelnen Aspiranten so gut wie möglich in Position zu bringen versuchen. Alle halten unauffällig die Augen offen, um herauszufinden, warumdieWohnung weit unter dem ortsüblichen Mietniveau angeboten wird. Es muss doch irgendwo ein Haken sein. Das Misstrauen wächst unter den Interessenten immer weiter und die Spekulationen schießen ins Kraut, während sie zusammen warten und von Brockes einzeln zum persönlichen Interview gerufen werden. Die ersten Hinweise, dass hier etwas faul ist, werden von Elke Özdamar verstärkt, als siemit Informationen zum Vermieter der Wohnung und einem Becher Kaffee vom nahegelegenen Büdchen zurückkommt. Die kollektive Schlussfolgerung ist schnell gezogen: Brockes sei ein perverser Zuhälter, der in der Wohnung bis vor Kurzem junge ausländische Frauen untergebracht habe, was auch das Matratzenlager im Wohnzimmer erkläre. Plötzlich drehen die potenziellen Mieter den Spieß um und bedrängen Brockesmit bohrenden Fragen. Er gibt sich geschlagenundholt seinen Onkel und Wohnungseigentümer Benedikt Goldmann zu dem Casting hinzu. Goldmann, beeindruckend gespielt von Wolfgang Rüter, wohnt eine Etage darüber und wird in einemRollstuhl hereingeschoben. Nun beginnt das Interview-Spiel vonNeuem, nur dass die Fragen und Einschätzungen des Wohnungsbesitzers durchaus jeweils ins Schwarze treffen. Beeindruckend verwandelt sich Goldmannwährend der Bewerbungsrunde von einem etwas schrulligen älteren Herrn mit durchaus geschliffenen Umgangsformen in einen gebrechlichen Greis, der mit Demenz und Inkontinenz geschlagen ist. Wolfgang Rütermacht als Benedikt Goldmann eindrücklich klar, wo der Haken bei der Wohnung ist. Informationen unter www.theater-bonn.de und Tel.: 0228 7780-08. Wohnung frei!­ Sonderbare Vermieter bieten in Bonn eine Altbauwohnung weit unter der ortsüblichen Miete an. Wo ist der Haken? Martin Brockes (Timo Kählert) schiebt seinen Onkel Benedikt Goldmann (Wolfgang Rüter) in die Wohnung zum Mieter-­ Casting. Foto: Thilo Beu

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