Rheinisches Ärzteblatt 3/2024

Rheinisches Ärzteblatt / Heft 3 / 2024 25 Forum § 16 Satz 3 aufgehoben. Dort hieß es „Sie (Ärztinnen und Ärzte) dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Es bleibt im Ermessen der Person, ob diese Form der Begleitung eine Option darstellt. Der hier entstandene moralische Konflikt für die Hausärztin in der Betreuung der Patientin indizierte eine ethische Fallbesprechung vor Ort durch MEBA. Ethische Fallberatung Die Initiierung einer ethischen Fallberatung folgt dem Grundsatz: „keine Beratung ohne Auftrag“. Nach der Anfrage bei MEBA nahm die Koordinatorin in der Vorklärungsphase Kontakt mit den betroffenen Personen auf, um erste Informationen einzuholen und den Termin abzusprechen. Dieser fand sechs Tage nach Anfragestellung in der häuslichen Situation statt. Die Patientin saß in ihrem Sessel im Wohnzimmer und nahm die ganze Zeit über am Gespräch teil. Die Tochter der Betroffenen, die Hausärztin, die Palliativ-Pflegefachfrau, die Palliativärztin sowie drei Teilnehmende vom Team MEBA (Moderation, Protokoll und Hospitation) waren anwesend. Alle waren in der Runde für alle gut sichtbar. Der Sohn der Betroffenen war über die mobile (ambulante) ethische Fallberatung informiert, wollte jedoch nicht an dem Gespräch teilnehmen. Zu Beginn erläuterte der Moderator die Regeln und den vorgesehenen Ablauf der ethischen Fallberatung. Existenzielles Leid Die Einwilligungsfähigkeit der Patientin wurde von allen Teilnehmenden als gegeben angesehen. Die Hausärztin beschrieb die Betroffene als kontaktfreudige, lebensinteressierte Frau. Das habe sich in den letzten Monaten deutlich geändert. Sie sei wiederholt zu ihr gekommen und habe die Bitte geäußert, sie bei ihrem Todeswunsch zu unterstützen. Die Palliativ-Pflegefachfrau berichtete, in den bisherigen vier Kontakten habe die Patientin nicht den Wunsch geäußert zu sterben. Da sie beobachtet habe, wie diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten Nahrung zu sich nehme, habe sie Zweifel am tatsächlichen Todeswunsch. Die Tochter der Patientin ergänzte, dass die im Haushalt lebende Pflegekraft sich immer sehr bemühe, Essen und Trinken anzureichen. Die Tochter beschrieb ihre Mutter als eine sehr zuverlässige und pflichtbewusste Frau. Sie habe immer viel Wert daraufgelegt, dass alles in Ordnung sei. Ihrer Einschätzung nach würde sie essen, da sie es müsse. Die Tochter der Patientin äußerte den Wunsch, dass ihre Mutter keine Qualen mehr erleiden solle. Während des Gesprächs wurde die Patientin selbst nach ihren Wünschen befragt. Unter Tränen äußerte sie dabei mehrfach mühsam, aber dennoch deutlich zu verstehen: „Ich möchte einschlafen.“ Alle Beteiligten nahmen wahr, dass die Betroffene ihre Situation als existenzielles Leid erlebte. Zum Zeitpunkt der ethischen Fallberatung wurde die Betroffene bereits über Nacht mit Midazolam intermittierend sediert und erhielt Morphin mit dem Ziel einer Symptomkontrolle bei Schmerzen und schwerer Schlafstörung. Aufgrund der deutlichen Einschränkung der Lebensqualität, des existenziellen Leids der Betroffenen und ihrem ausdrücklich geäußerten Wunsch, sterben zu wollen, sah das Team MEBA zwei mögliche Szenarien: Sofern die behandelnden Ärztinnen die Prognose begrenzt auf nur noch wenige Tage/Wochen (Terminalphase) einschätzten, könnte angesichts der bestehenden refraktären Symptomlast einschließlich eines schweren existenziellen Leids durchgehend eine tiefere Sedierung durchgeführt werden. Sofern allein ein existenzielles Leid Grundlage für die Indikationsstellung einer palliativen (gezielten) Sedierung war, sollte diese nach den Handlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zunächst flach durchgeführt werden, um eine eventuelle Entlastung von diesem Leid durch die vorübergehende Sedierung nicht zu übersehen, was der- zeit bereits im Rahmen der nächtlichen Sedierungen erfolgt war. Der Familie und den Freunden sollte Raum zum Abschied ermöglicht werden. Verzicht auf Essen und Trinken Bei einer längeren Prognose könnte als zweites Szenario die Patientin sich selbst eigenverantwortlich für einen freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) entscheiden. Seitens MEBA wurde der FVET näher erläutert. FVET sei jederzeit möglich und von der Betroffenen selbst durchführbar. Sie sollte in diesem Fall entlastet werden, um nicht essen und trinken zu müssen. Auf Mund- und Lippenpflege sollte geachtet werden. Seitens der Moderation wird erläutert, dass sich nach ein paar Tagen Müdigkeit und gegebenenfalls Unruhe einstellen könnten. Der FVET wird vonseiten der DGP als ein Vorgehen „sui generis“ beschrieben und somit klar als eigenständige und medizinethisch wie juristisch unproblematische Maßnahme eingeordnet und klar von einem „Sterben zulassen“, einer „Tötung auf Verlangen“ oder einem „assistierten Suizid“ abgegrenzt. In der Abschlussrunde wurden alle Anwesenden zum Verlauf der ethischen Fallberatung befragt. Die Anwesenden gaben eine positive Rückmeldung und fühlten sich nun sicher im Tun. Der Tochter fiel es schwer, sich zu äußern, die Trauer sei für sie überwältigend. Die Betroffene selbst sagte: „Ich habe ein schönes Leben gehabt“. Nachklang Die Hausärztin wendete sich nach der ethischen Fallberatung an die Patientin und erklärte ihr die Möglichkeit, das Essen und Trinken einzustellen. Die Betroffene erschien zutiefst erleichtert, wollte sich für diese Möglichkeit entscheiden und fragte: „Darf ich dann gehen?“ Die Ärztin antwortete, offensichtlich selbst betroffen: „Ja, natürlich. Sie dürfen gehen …“. Im weiteren Verlauf besprach das therapeutische Team das Vorgehen der nächtlichen palliativen Sedierung. Die Tochter übernahm die Kommunikation mit der häuslichen Pflegenden. Die Palliativ-­ Pflegefachkraft unterstützte die häusliche Pflegeperson und erläuterte adäquate Maßnahmen zur Mundpflege. Die orale Medikation wurde vollständig eingestellt. Der Tochter wurde eine Trauerbegleitung angeboten, die sie gerne annahm. Die Patientin verstarb zwei Tage nach der ethischen Fallberatung friedlich im Beisein ihrer Tochter. Literatur bei den Verfassern Mareike Hümmerich M.A. ist Koordinatorin Mobile Ethikberatung und Gesundheitliche Versorgungsplanung im Palliativen Netzwerk für die Region Aachen e. V., Dipl.-Soz. Päd. Veronika Schönhofer-Nellessen ist Geschäftsführerin des Netzwerks und Leiterin des Bildungswerks Aachen, Univ.-Professor Dr. Roman Rolke ist Direktor der Klinik für Palliativmedizin der Uniklinik RWTH Aachen und Univ.-Professor Dr. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik der RWTH Aachen.

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