W
ir hatten Karten für
eines der, wie sich
an diesem Abend
herausstellte, le-
gendären Europapokalspiele. Ich
bin auch gegen Neapel oder An-
derlecht im Weser-Stadion gewe-
sen, aber nichts hat mich so fas-
ziniert wie dieses sagenhafte 6:2
in der Verlängerung gegen Spar-
tak Moskau. Was auch damals,
am 4. November 1987, einen
Tag nach meinem 21. Geburts-
tag, damit zu tun hatte, dass bei
den Russen mein heimliches Idol
spielte: Torwart Rinat Dassajew.
Er trug immer genau jene wei-
ßen Knieschützer, die ich damals
auch als Torwart des Brinkumer
SV über meine Stutzen zog. Sei-
ne Ausstrahlung hatte mich bei
der WM 1986 fasziniert, und
dass nun er nach Bremen kom-
men würde, hatte mich dazu
animiert, mir sofort zwei Tickets,
ausnahmsweise sogar Sitzplätze,
im Vorverkauf zu sichern.
Ich glaube,
das haben ungefähr
16.000 andere auch getan, aber
nachdem Werder das Hinspiel
sang- und klanglos in Moskau
mit 1:4 verloren hatte, sind
nicht mehr viele hinzugekom-
men. Und nun hockten wir also
auf den orangefarbenen Bänken
der Nordtribüne. Und sahen?
Erst einmal nichts. Die Nebel-
schwaden verhinderten, dass wir
tatsächlich vom frühen Doppel-
schlag von Frank Neubarth und
dem 3:0 von Frank Ordenewitz
etwas mitbekamen. Nicht mal
eine halbe Stunde war gespielt
und Werder wäre damit schon
weiter gewesen. Erst viel später
in Fernsehaufnahmen erkann-
te ich, dass meinem Vorbild an
diesem Tag irgendwie auch der
Durchblick fehlte.
Meinem Bruder
und mir machte
das aber nichts aus. Schemen-
haft konnte man erkennen und
zumindest immer hören, wie
dramatisch es zuging. In der Re-
portage von Radio Bremen sollte
es heißen: „Das Tor von Rinat
Dassajew ist kaum zu sehen. Nur
die Zuschauer in der Westkurve
sind begeistert von den Chancen
des SV Werder, die hinter einer
Nebelwand bejubelt werden.“
In der zweiten Halbzeit
fiel plötz-
lich das 3:1. Werder war damit
draußen. Doch speziell in unse-
rer Hälfte vor der Ostkurve war
dann irgendwann wieder jedes
Detail zu erkennen. Ich erinnere
mich noch, wie der eingewech-
selte Jonny Otten aus vollem Lauf
eine Flanke schlug und der aufge-
rückte Libero Gunnar Sauer den
Ball zum 4:1 nach 78 Minuten
einköpfte. Wahnsinn! Obwohl
ich auch wegen Dassajew da war,
hielt ich natürlich zu Werder.
Damit ging es
in die Verlängerung.
Das Wetter hätte an diesem Tag
ungemütlicher nicht sein können,
aber es machte einen Teil des Rei-
zes aus. Wir hatten den Eindruck,
dass die Russen immer verun-
sicherter wirkten. Und Werder
spielte sich in einen Rausch. 5:1
durch Karl-Heinz Riedle und 6:1
durch Manfred Burgsmüller, die-
ses unglaubliche Schlitzohr. Das
Tor war eine Augenweide: eine
Drehung wie Gerd Müller, ein
Schlenzer aus der Hüfte. Mein
Bruder und ich umarmten uns.
Und dann zitterten
wir wieder.
Spartak schaffte das 6:2. Wegen
der Europapokal-Arithmetik hät-
te ein weiterer Gegentreffer das
Aus bedeutet. Ich weiß noch,
dass wir schweißnasse Hände
hatten bis zum Schlusspfiff. Und
dass wir glückselig heimgeradelt
sind. Unsere Eltern haben sich
keine Sorgen gemacht, dass wir
erst nach Mitternacht kamen.
Mein Vater Gottfried und meine
Mutter Ingrid haben bei solchen
Anlässen immer alles live im
Radio verfolgt. Für uns hatte es
sich teilweise ähnlich angefühlt.
Heute hätten die Fernsehanstal-
ten vermutlich dafür gesorgt,
dass bei solchen Sichtverhält-
nissen gar nicht erst angepfiffen
würde. Ich glaube, es hätte dann
aber kein ‚Wunder von der We-
ser‘ gegeben.
Frank Hellmann
FRANK HELLMANN
wurde am 3. November 1966
in Bremen geboren, arbeitete
als freier Mitarbeiter für den
Weser-Kurier, wo er nach dem
Studium auch 1996 sein Vo-
lontariat begann. 2001 zog er
nach Frankfurt, arbeitete erst
für die Internetausgabe der FAZ
und seit 2003 als ‚Fester Freier
Mitarbeiter‘ der Frankfurter
Rundschau.
Zittern im
Nebel
Es war neblig.
Mein Bruder Kai und ich
fuhren bereits bei der An-
reise mit dem Fahrrad aus
Brinkum über die Bremer
‚Erdbeerbrücke‘ durch
dichten Dunst.
Foto: imago
WERDER MAGAZIN 302 79
WERDER-ERINNERUNGEN
1...,69,70,71,72,73,74,75,76,77,78 80,81,82,83,84,85,86,87,88