WP/StB Prof. Dr. Wolfgang Hirschberger, Villingen-Schwenningen / StB Dipl.-oec. Norbert Leuz, Stuttgart
Der Grundsatz der Wesentlichkeit bei der
Jahresabschlusserstellung
u
DB0526894
I. Einleitung
Zwei Aspekte sind es, die den Grundsatz der Wesentlichkeit ak-
tuell ins Bewusstsein ru¨cken lassen:
1.
Durch das BilMoG hat sich das HGB vom Ertragsteuerrecht
emanzipiert. Ziel dessen ist die Sta¨rkung der Informations-
funktion des Jahresabschlusses. Dabei stellt sich die Frage, ob
die verbesserte Informationsfunktion den Mehraufwand wert
ist, der durch unterschiedliche Ansatz- und Bewertungsregeln
in HGB bzw. EStG entsteht.
2.
Die EU-Kommission hat am 25. 10. 2011 einen Richtlini-
envorschlag zur grundlegenden U¨ berarbeitung und Zusam-
menfu¨hrung der bisherigen 4. und 7. EU-Rechnungslegungs-
richtlinien vorgelegt. Dabei wird der Grundsatz der Wesent-
lichkeit in die enummerierten GoB aufgenommen, wenn es
in Art. 5 Abs. 1 Buchst. j heißt:
Ansatz, Bewertung, Darstellung und Angabe in einem Jahresabschluss
haben sich auf die Wesentlichkeit der jeweiligen Posten zu beziehen
“.
Nach Verabschiedung durch die EU wird der Wesentlich-
keitsgrundsatz u. E. durch den Deutschen Gesetzgeber in
§ 243 HGB „Aufstellungsgrundsatz“ aufzunehmen sein, zu-
mal sich die Wesentlichkeit ausdru¨cklich auf alle Bereiche der
Jahresabschlusserstellung erstreckt.
Die Aufnahme in § 243 HGB hat aber nur klarstellenden
Charakter, denn der Jahresabschluss ist bereits heute gem.
§ 243 Abs. 1 HGB nach den GoB aufzustellen. Damit sind
sowohl die enummerierten GoB als auch die anderen ge-
meint. Gerade das macht den Sinn des § 243 Abs. 1 HGB
aus. Und die anerkannten Systeme der GoB enthalten regel-
ma¨ßig den Grundsatz der Wesentlichkeit
1
.
Mit dem IDW PS 250, vom HFA mit Datum vom 25. 11. 2011
u¨berarbeitet und als Entwurf einer Neufassung zur Diskussion
freigegeben, hat sich auch der Berufsstand der Wirtschaftspru¨fer
zur Frage der Wesentlichkeit positioniert. Aber diese Stellung-
nahme zur „Abschluss
pru¨ fung
kommt aus zwei Gru¨nden nicht
unmittelbar fu¨r die „Abschluss
erstellung
in Betracht:
1.
Es macht u. E. einen Unterschied, ob man als Abschlusspru¨-
fer bereit ist, den Fehler eines anderen (hier des Abschluss-
erstellers) zu tolerieren, oder ob man als Abschlussersteller be-
wusst einen Fehler macht.
2.
Im IDW PS 250 wie auch im IDW EPS 250 n. F. wird kein
Versuch unternommen, den Begriff der Wesentlichkeit zu
quantifizieren.
Gleichwohl sind einige Inhalte des IDW PS 250 auch fu¨r die
Abschlusserstellung analog anzuwenden, z. B. die in Tz. 13 ge-
nannten Bezugsgro¨ßen.
Die nachfolgenden Ausfu¨hrungen bescha¨ftigen sich mit der
Wesentlichkeit im Rahmen der Jahresabschlusserstellung. Zwei
angrenzende Bereiche werden nur tangiert, wenn es sich aus
Gru¨nden der Analogie anbietet: zum einen die Konzernabschluss-
erstellung nach HGB, zum anderen die IFRS-Abschlu¨sse.
Mit der Konzentration auf die Jahresabschlusserstellung wird
bewusst die Zahlungsbemessungsfunktion in den Mittelpunkt
geru¨ckt. Es wu¨rden sich andere Wesentlichkeitsgrenzen ergeben,
wenn sich die Betrachtung auch auf Abschlu¨sse erstrecken wu¨r-
de, die – wenigstens nach Intention des Gesetzgebers bzw. des
Standardsetters – „nur“ eine Informationsfunktion haben.
Es ist dem Jahresabschlussersteller nicht geholfen, wenn es
zwar zuverla¨ssige Wesentlichkeitsgro¨ßen fu¨r den Jahresabschluss
gibt, fu¨r die anschließende Ableitung einer Steuerbilanz aber an-
dere Grenzen gelten. In diesem Zusammenhang ist es positiv,
dass der Steuergesetzgeber in § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG ausdru¨ck-
lich auf das unter Beachtung der handelsrechtlichen GoB ermit-
telte Betriebsvermo¨gen Bezug nimmt, wenngleich es von diesem
Grundsatz in den nachfolgenden Normen etliche, i. d. R. fiskal
bedingte, Ausnahmen gibt.
II. Kosten-/Nutzen-Relationen der Jahresabschluss-
erstellung
Der Grundsatz der Wesentlichkeit ist bei jeglicher Informati-
onsvermittlung zu beachten
2
.
Das mittels eines Jahresabschlusses
vermittelte Bild der Vermo¨gens-, Finanz- und Ertragslage des
Unternehmens (bzw. wie es in § 264 Abs. 2 Satz 1 heißt: „der
Kapitalgesellschaft“) ist hierbei nur ein Sonderfall. Man wu¨rde
durch eine U¨ berfrachtung jede Information fu¨r den Empfa¨nger
erschweren oder gar nutzlos machen. Die Kunst jeglicher Infor-
mationsvermittlung liegt regelma¨ßig darin, sich auf das Wesent-
liche zu beschra¨nken. Ein U¨ bermaß an Information verwirrt,
fehlende bzw. falsche Informationen fu¨hren regelma¨ßig zu fal-
schen Entscheidungen.
Information“ hat immer auch ihren Preis. Dabei zeigt sich
das Pha¨nomen, dass eine 100% richtige Information nicht zwin-
gend den ho¨chsten Preis hat. Wenn etwas sehr sicher ist, ist es
regelma¨ßig Allgemeingut und niemand ist mehr bereit, dafu¨r
etwas zu bezahlen. Das ist auch auf die Jahresabschlusserstellung
zu u¨bertragen. Der „sicherste“ Bilanzposten du¨rften regelma¨ßig
die Liquiden Mittel sein, denn ihre Ermittlung du¨rfte in aller
Regel problemlos mo¨glich sein. Sie stehen daher nicht umsonst
gegen Ende des Bilanzgliederungsschemas gem. § 266 Abs. 2
HGB. Je weiter man sich von ihnen entfernt, desto komplexer
wird die Ermittlung der Werte und damit steigt auch die Unsi-
cherheit des Vermo¨gensausweises; die Relation zwischen Grenz-
nutzen und Grenzkosten wird immer kleiner.
Mit relativ wenig Aufwand la¨sst sich ein großer Teil des Jah-
resabschlusses erstellen. Die letzten Informationsgewinne sind
dann aber regelma¨ßig sehr teuer. Der Quotient aus Grenznutzen
WP/StB Prof. Dr. Wolfgang Hirschberger
,
Duale Hochschule Baden-
Wu¨rttemberg Villingen-Schwenningen.
StB Dipl.-oec. Norbert Leuz
,
Vizepra¨sident der Steuerberaterkammer Stuttgart. Die Autoren ge-
ben ihre perso¨nliche Auffassung wieder.
1
Vgl.
Leffson
,
Die Grundsa¨tze ordnungsma¨ßiger Buchfu¨hrung, 7. Aufl. 1987,
S. 180 ff.;
Winnefeld
,
Bilanz-Handbuch, 4. Aufl. 2006, Kap. D, Rdn. 40;
Adler/Du¨ring/Schmaltz
,
Rechnungslegung und Pru¨fung der Unternehmen,
6.
Aufl. 1995, § 252 HGB Rdn. 127 f.
2
Vgl.
Leffson
,
a.a.O. (Fn. 1), S. 181.
DER BETRIEB | Nr. 45 | 9. 11. 2012
Betriebswirtschaft
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