Gutachtliche Entscheidungen

Fehlende Inaugenscheinnahme Imnachfolgend geschilderten Fall beklagte ein Patient, ihm sei trotz seines schlechten Gesundheitszustandes bei seinem Besuch in der Praxis seines Hausarztes nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgehändigt worden. Weil der Arzt ihn nicht untersucht und be- handelt habe, sei eine dialysepflichtige Niereninsuffi- zienz eingetreten. Der 44-jährige Patient begab sich im Jahr 2015 an ei- nemMittwoch ohne Temin in die Hausarztpraxis, weil er seit einigen Tagen unter Erbrechen gelitten habe, sein Gesicht angeschwollen sei und er seit dem Mor- gen auf einem Auge nicht mehr habe sehen können. Da seine Versichertenkarte nicht mehr gültig gewesen sei, habe man zunächst eine aktuelle Mitgliedsbeschei- nigung seiner Krankenkasse angefordert. Im Warte- zimmer sei ihm dann, ohne dass der Arzt ihn gesehen habe, durch die Arzthelferin eine Arbeitsunfähigkeits- bescheinigung ausgehändigt worden, verbunden mit der Aufforderung, er möge sich am kommenden Mon- tag, das bedeutete nach fünf weiteren Tagen, wieder vorstellen. Der Patient berichtete weiter, dass sich sein Gesund- heitszustand in den Folgetagen zunehmend verschlech- tert habe. An dem betreffenden Montag habe er dann auf beiden Augen nicht mehr sehen können. Seine Ehe- frau habe ihn um 8 Uhr morgens in die Hausarztpraxis gebracht. Da der Arzt noch nicht anwesend gewesen sei, wurde ihnen von der Arzthelferin nahegelegt, ins Krankenhaus zu fahren oder später wiederzukommen. Er habe dann aufgrund seines schlechten Befindens kaum noch das Auto seiner Ehefrau erreichen können. In der Krankenhausnotaufnahme sei dann eine dia- lysepflichtige Niereninsuffizienz festgestellt worden, die sich nicht mehr gebessert habe. Der Antragsgegner widerspricht in seiner Stellung- nahme den Angaben des Patienten: Ihm sei schon bei der ersten Vorstellung in der Praxis eine Untersuchung angeboten worden; der Patient habe aber nicht war- ten wollen. Die Karteikarte des Arztes weist für den Behandlungszeitraum 2005 bis 2015 nur Diagnosen und Verordnungen aus, aber keine Untersuchungs­ befunde. Für den umstrittenen Mittwoch ist aufge- führt: „Patient ungepflegt und offensichtlich alkoho- lisiert, kann nicht arbeiten, braucht AU.“ Ausgestellt wurde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für 3 Tage wegen einer gesicherten Gastroenteritis. Für den betreffenden Montag ist aufgeführt: „Arzt noch nicht im Haus, angeboten zu warten, Patient ging ohne Be- handlung.“ Der Patient wurde ab dem erwähnten Montag bei dia- lysepflichtiger Niereninsuffizienz stationär behandelt. Vier Wochen später erhielt er einen Shunt zur dauer­ haften Dialyse. Bewertung des Sachverhaltes Die Tatsache, dass der Arzt am besagten Mittwoch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellte, ohne den Patienten gesehen zu haben, verletzt die Arbeitsun­ fähigkeitsrichtlinie. Der Vorgang schlägt sich zugleich als Behandlungs- fehler nieder. Wenn der Arzt den Patienten mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstattete, dann musste er ihn zuvor gesehen haben. Ihm wäre das schlechte Befinden des Patienten aufgefallen, ebenso die Wassereinlagerungen im Gesicht, möglicherweise ein auffälliger urämischer Geruch, den die Arzthelfe- rin als Folge eines Alkoholkonsums fehlinterpretiert hatte; auf die beklagte Sehstörung hätte er eingehen müssen. Diese äußeren Befunde gaben Veranlassung zur weiteren Untersuchung, vermutlich auch zur Ein- weisung in ein Krankenhaus. Obgleich im Gutachten ein Befunderhebungsfehler mit Umkehr der Beweislast festgestellt worden ist, kann der Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit durch einen ermächtigten Arzt sieht vor, dass die Bewertung des körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustandes der oder des Versicherten einer ärztlichen Untersuchung bedarf. von Rainer Windeck, Wolfgang Sohn, Ernst Jürgen Kratz und Beate Weber 10 | Gutachtliche Entscheidungen Allgemeinmedizin

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